Schriftzug
21. Jahrhundert -> Juni 2023 Lost in Ohio

Drei Komma fünf Tage im Juni

oder: Lost in Ohio

 

 

 

 

Eine Art Roadmovie

erlebt und komponiert

von Roland Geiger

im Juni 2023

 

 

 

 

Montag

Als ich mit dem Fahrrad in die Stadt fahre, kommt es mir gar nicht vor, als ob ich heute mittag nach Amerika aufbrechen werde. Die Koffer liegen bereit, sind auch schon fast fertig gepackt, aber irgendwie aufgeregt bin ich nicht. Beim ersten Mal nach USA - das ist dieses Jahr 28 Jahre her - da waren wir 17 Tage unterwegs, da verging die Zeit wie im Fluge, und ich konnte es nicht fassen, als sie plötzlich rum war. Beim zweiten Mal zwei Jahre später waren wir 21 Tage drüben, da ging die Zeit noch schneller rum. Auch die Reisen dazwischen - 2001, 2012 und 13 - waren aufregend und schön. Aber 2018 brachte irgendwie eine Ernüchterung, und es bedurfte einer Pause von fünf Jahren und eines realen Grundes, um wieder hinüberzufliegen. Es ist nicht der lange Flug oder die hohen Kosten (der Preis für die Flüge ist brutal gestiegen, kostet jetzt gut das Doppelte vom letzten Mal). Jemand sagte ich jüngst, ich mag Fliegen nicht, aber ich will fremde Länder sehen. Irgendwas ist anders, und ich habe die Vorahnung, ich werde es herausfinden. Wenn auch vermutlich nicht in den ersten drei Tagen.

 

Ich werde heuer allein fliegen, und Anne wird am Samstag nachkommen. Ich bin bis nächsten Sonntag in Fort Wayne, Indiana, und fahre am Sonntag hinauf nach Wayland, Steuben, New York, wo Anne am Samstag eintreffen wird - über Frankfurt-New York City-Rochester. In Fort Wayne findet das Zweijahrestreffen der IGGP statt, der auch mein Verein, die Arbeitsgemeinschaft für Saarländische Familienkunde (ASF), gehört, und ich werde dort am Sonntag dort einen Vortrag über das deutsche Notariatswesen in Deutschland halten. Aber bis dort ist noch ein Stück hin. Gut fünf Tage und mindestens sechstausend Kilometer.

 

Direkt neben dem Konferenzzentrum, in dem wir tagen werden, liegt die Allen County Library, die seit vergangenem Jahr Mitglied in unserem Verein ist und der ich in einem Extrakoffer gut 23 kg Bücher mitbringen werde, da der Transport dorthin mit der Post einfach nur teuer ist. Der zusätzliche Koffer, der nur den Hinweg mitmacht und danach in Amerika bleiben soll (ein alter Koffer, der seine besten Tage wirklich hinter sich hat, aber mit Rollen versehen ist), hat mich 68 Euro gekostet, dafür darf ich dort drin Material für halt eben 23 Kilo transportieren. Wenn ich Bücher mit diesem Gewicht per DHL in die Staaten schicken würde, würde mich das 207 Euro 99 kosten (20 Kilo Kosten auch schon 143 Euro). Klar, ich hätte dann nicht den Koffer und das Gewicht an der Backe während der Reise dorthin (und ich habe später auf der Tour ein paarmal drüber nachgedacht, warum ich mir das blosz angetan habe, vor allem, weil der Radabstand unterm Koffer nicht wirklich grosz ist, und wenn ich mich mit dem Ding mal rumgedreht habe, dann neigt er dazu – vermutlich weil der Schwerpunkt etwas ungünstig sitzt – zur Seite umzukippen und mir gegen Schienbein oder in die Hacken zu hauen, was sich mit dem anderen groszen Koffer in der anderen Hand, dessen Gewicht auch nur knapp unter 20 Kilo liegt, nicht wirklich vermeiden lässt. Gut, dasz ich mir angewöhnt habe, in Amerika nur in Deutsch zu fluchen. Man mag den Tonfall verstehen, aber zumindest bleibt der unmittelbare Sinn dem Zuhörer fremd. Ein Glück!). Aber ich hab mich so entschieden, das Geld bezahlt, die Lieferung mit der Bücherei besprochen. Die kriegen natürlich ‘ne Rechnung, und ich habe gebeten, mir das Geld in Dollar direkt auszubezahlen, was gut ist für die Reisekasse. Nicht, dasz es uns so geht wie 2018, als uns irgendwo im ländlichen Pennsylvania das Bargeld ausging und wir über unsere Kreditkarten kein neues beschaffen konnten, weil wir unsere Pins nicht kannten. Ich erinnere mich dran, dasz wir in Intercourse von den letzten 3 Dollars ein Eis kauften (für 2 Portionen hat es nicht mehr gereicht), auf den Stufen vom Geschäft über die Strasze zu einer Bank schauten, wo man uns eine halbe Stunde vorher gesagt hatte, dasz man uns nicht helfen konnte. Das war die Situation, wo der junge Amish mit seiner zweirädrigen Kutsche an der Ampel hielt, nach links abbog und um die Bank herum zum Drive-In-Schalter fuhr, um dort Geld abzuholen. Das musz man gesehen haben. Bei der nächsten Bank etwas auszerhalb des Orts haben wir dann Bargeld bekommen, weil die Bankangestellte ihren Job drauf hatte und wuszte, wie sich das arrangieren liesz. Sie richtete uns ein temporäres Konto ein, liesz über die Kreditkarte Geld darauf überweisen, zahlte uns das Geld aus und löschte das Konto wieder. Klar, der Spasz hat uns damals 25 Euro Gebühren gekostet, aber in einer Notlage legt man halt eben drauf. Die Gebühren waren uns das wert. Dieses Mal hatten wir allerdings Bargeld genug, ich habe 200 in cash dabei, und dazu wurde noch die 180 von der Rechnung kommen. Damit und mit den Kreditkarten sollten wir gut auskommen.

 

Gegen 15 Uhr sind beide Koffer zu, und die letzten Vorbereitungen (für mich) beginnen. Ich dusche und schlüpfe dann in meine Reisekleidung. Wie die Male davor werde ich im Kostüm reisen. Das bedeutet dieses Mal die braune dreiviertel Hose, die langen weiszen Strümpfe, mein bequemes weiszes Hemd, darauf ärmellose braune Jacke und auf dem Kopf mein neuer Dreispitz. Auf dem Rücken die Tasche mit dem Laptop inklusive Computer und Lesematerial (den kleinteiligen Inhalt in 2 Plastiktüten, falls ich bei der Kontrolle am Flughafen alles auspacken musz) und die beiden Koffer, den groszen und den kleinen. Anne fährt mich mit meinem Auto zum Bahnhof, wo ich die Probe aufs Exempel mache und die beiden Koffer hinter mir her ziehe, worauf prompt der kleinere den ersten Purzelbaum schlägt, nicht den letzten bis nächsten Donnerstag (dann werde ich den Inhalt los, und er wird seine restliche Zeit im Kofferraum verbringen). Die Rampe zum Gleis 1 am St. Wendeler Bahnhof benutzen wir nicht (welch ein Geniestreich, die schiefe Rampe für Koffer etc. gut 100 Meter von der Treppe zu platzieren, wo sie kaum jemand sieht), sondern halt die Treppe. Mein Zug fährt um 20 nach 4, und heute ist er sogar pünktlich. Es gibt das obligatorische Foto auf dem Bahnsteig, ich verabschiede mich von meiner Frau, ziehe die Koffer ins Abteil, und meine Fahrt beginnt.

 

In der Vlexx gibt es 2 Abteile, wo man sich mit schweren Koffern aufhalten kann, das lange tiefe mit den Sitzen am Rand, wo auch Fahrräder mitgenommen werden können (die übrigens dort Vorrang haben vor sitzenden Passagieren ohne Fahrräder), um das andere Abteil mit der Toilette und dem Raum vorne dran, ebenfalls mit Sitzen am Rand. Letzteres wähle ich. Dort ist auch reichlich Platz, links von mir sitzt ein Berufspendler, der aber wohl seine Ruhe haben will, denn ein Gespräch kommt nicht wirklich zustande – glauben Sie mir, ich habe mich bemüht. Er steigt in Türkismühle aus, der 1. Station. In Hoppstetten steigt eine junge Dame mit einer körperlichen Behinderung hinzu. In Kreuznach wird’s dann etwas voller. Von der Seite her kommt eine Gruppe junger Leute, vier Männer und eine Frau, ein Junge von etwa drei und ein Baby. Sie nehmen die restlichen Plätze ein. Einer der jüngeren beschäftigt das Baby, während die anderen irgend etwas im Koffer suchen. Dem hat’s das blaue Band an meinem gröszeren Koffer angetan. Es zupft daran, und der Mann schaut nervös zu mir. „Dafür ist es da“ sage ich, „damit man es sofort sieht!“ Er grinst, und ein interessantes Gespräch beginnt. Sie sprechen Deutsch mit starkem Akzent und sind auf dem Weg nach hause - heute abend werden sie von Frankfurt aus nach Äthiopien in der östlichen Mitte Afrikas fliegen. Meine Erklärung, dasz mein Ziel auch mit A beginnt wie Afrika und auch damit endet, nur dazwischen ist alles anderes, war vielleicht doch etwas zu kryptisch. Wir stellen fest, dasz wir gleichlang unterwegs sind, wenn auch die Richtungen gar nicht stimmen.

 

In Mainz steigt die junge Frau aus, an ihrer Stelle steigt eine andere ein. Sie trägt eine interessante Bluse. Der Knopf oben und der Knopf unten sollen wohl dafür sorgen, dasz man ihren bloszen Rücken bestaunen soll-kann; der Rest bleibt der Fantasie überlassen. Aber heute morgen beim Anziehen ist etwas verkehrt gelaufen, denn jetzt ist hinten vorne. Das läszt der Fantasie nicht viel Spiel. Als sie sich setzt, ist dafür gar kein Platz mehr. Ja, ich weisz, meine Damen, schon klar, lüsterne alte Männer und so. Aber die Afrikaner sind ein gut Stück jünger als ich und bekommen trotzdem Stielaugen.

 

Kurz vorm Flughafen entsteht Aufbruchstimmung. Ich ziehe meine Koffer nach drauszen, als der Zug hält. Vorn links finde ich einen Kofferkuli, den ich sofort in Beschlag nehme. Mit ihm geht’s die Rolltreppe hinauf und in einen Fahrstuhl. Als der oben ankommt, stehe ich in einer Baustelle. Überall Himmel und Menschen und Rattern und Baustelle. Ich hab keinen Schimmer, wo ich bin. Ich frage nach dem Shuttlebus zum Hotel, aber komme damit auch nicht weiter. Wieder rein in den Fahrstuhl, zwei nach unten, ein paar Meter den Gang entlang und wieder nach oben. Ich komme im gleichen Chaos raus, aber 10 m weiter. Nicht hilfreich. Eine nette Dame in Uniform weisz Rat und den Weg. Und damit finde ich binnen Minuten meinen Bus, der schon gut gefüllt ist. Er kurvt ein biszchen durchs Gelände, dann über eine Autobahn und taucht in die Reihe von Hochhäusern ein. Mit Schmackes geht es durch zwei Kreisel. Am zweiten Halt fragt der Fahrer die Verbliebenen, wo sie hinmöchten. Da meint er, dasz wir hier auch rausmüssen, wir müszten nur um die Ecke. Ich will ihn nicht fragen, ob er uns nicht um die Ecke bringen will. Also ziehen wir los, auf dem Bürgersteig munter schwatzend. Doch da die einen schneller, die anderen langsamer laufen - kommt nicht selten auf das Alter und die Anzahl der Koffer an -, zieht sich das ganze auseinander. Auf halber Strecke geht ist ne Art Baustelle, da ziehen wir die Koffer durch eine Art Baustelle, die bis zur Strasze reicht. Hier liegt Schotter, und wir müssen mit den Koffern auf kleinen Rollen da durch. Als wir dann nacheinander unser Hotel erreichen, das „Hampton By Hilton Frankfurt Airport“, ist aus dem eifrigen Schwatzen ein mürrisches Schweigen geworden. Nacheinander checken wir ein. Als ich an der Reihe bin, lege ich unaufgefordert 2 Euro auf'n Tisch, die Kurtaxe habe ich bei meinem Vorgänger beobachtet.

 

Zu meinem Zimmer im fünften Stock fährt ein Aufzug, der schafft mich und meine Koffer locker hinauf. Die Türnummern sind eigenartig verteilt, je eins auf der linken, das nächste auf der rechten Seite des Flurs. Putzig. Natürlich laufe ich an meinem Zimmer vorbei. Als ich wende, hauts den kleinen Koffer aus der Bahn, ich verliere den Griff, und er legt sich auf den Bauch, sprich: die Vorderseite. Kracks. Irgendwas ist kaputt gegangen.

Mein Zimmer ist recht geräumig, eher lang als breit, ein groszes Fenster gibt den Blick auf ein groszes Bürogebäude gegenüber frei. Die geschlossene Badezimmertür enthüllt einen Wandschrank mit Bügeleisen und -brett. Praktisch.

 

Bevor ich mir's gemütlich mache, habe ich noch etwas zu erledigen. Drauszen auf dem Flur stolpere ich über ein Teil aus schwarzem Plastik, das meinem kleinen Koffer jetzt keinen Halt mehr geben und nicht mehr verhindern wird, dasz er nach vorne umkippt. Ich verlasse das Hotel und erfrage mir den Weg zum Terminal 2, das ich nach einer guten Viertelstunde zu Fusz erreiche. So stehe ich da, und hier sieht es ganz anders aus als eben am Terminal 1. Keine lange Strasze, die vor einem Eingang aus viel Glas in einen Riesenraum führt. Stattdessen hohe Drahtgitter, die mir den Weg versperren auf dunkle Parkplätze, wo ich garantiert nicht hin will. In einem kleinen Kehrfahrzeug döst ein Mann, der mein Outfit aber cool findet und mir den Weg zu einer Treppe weist, über die ich die erwartete Passage dann doch finde.

 

So ein Flugplatz ist eine tolle Sache, wenn man Zeit hat, um sich die Menschen dort anzuschauen. Ich nähere mich den Glastüren von der Seite her über mehrere Fahrstreifen, diese Gegend ist für Fuszgänger nicht ausgelegt. Vor einem Parkautomaten steht ein Mann in Uniform mit einem etwas schräg aussehenden Paar. Er durchaus nobel gekleidet, alle seine freien Hautflächen von oben bis unten mit schwarzen Bildern zerstochen, sie mit wilden Haaren und passendem Outfit, etwas stark geschminkt. Der Uniformierte hat ihnen am Automaten etwas erklärt, worüber sie sich tierisch freuen und unendlich dankbar sind und dies auch mit vielen Worten zum Ausdruck bringen. Der Mann vom Flughafen nickt und wird dann doch energisch, als der Tattoo-Mann einen Geldschein aus der Tasche zieht. Denn den will er und kann er und nach seinen Aussagen darf er nicht annehmen. Ich betrachte die Szene im Näherkommen und musz doch irgendwie grinsen, immerhin ein kleines biszchen.

 

Ich habe unsere Flüge gemeinsam gebucht. Beide Buchungen liefen über Air France, die Maschinen wird das holländische Transportunternehmen KLM stellen. Aus irgendeinem Grund aber läuft meine Buchung über Air France und die von Anne direkt über KLM. Schon vor Wochen haben uns beide Gesellschaften kontaktiert, unter anderem wegen ESTA. Das ist eine Erklärung, die jeder USA-reisende Nicht-US-Amerikaner abgeben musz. Damit prüft die U.S. Customs & Border Protection, ob wir möglicherweise ein Sicherheitsrisiko darstellen. Wenn keine Risiken festgestellt werden, wird der Antrag genehmigt. Das ESTA ist kein physisches Dokument, sondern eine digitale Reisegenehmigung.

 

Bei Air France gab’s keine Probleme, aber KLM schreibt immer wieder oben drüber, eine Frage sei nicht beantwortet, was dazu führen könnte, das man nicht ins Flugzeug dürfe. Egal, was ich tue, an diesem Passus komme ich nicht vorbei. Das wäre natürlich saublöd, wenn Anne am Freitagmorgen versuchen würde, online einzuchecken, und das funktioniert nicht wegen diesem Eintrag. Also habe ich beschlossen, heute Abend im Terminal 2 am Schalter der KLM nachzufragen. Die riesigen Hallen hinter den Glastüren sind fast leer, und genau das ist der Schalter der KLM auch, als ich ihn nach einiger Sucherei, verbunden mit vielen zurückgelegten Metern in der groszen Halle finde. Auch an der Information kann man mir nicht weiterhelfen. Mist. Da ich keine Lust habe, zum Hotel zurück zu laufen, nehme ich mir ein Taxi. Und trete direkt ins nächste Fettnäpfchen. Auf dem Weg hierher ist mir ein ziemlich groszes Areal links der Strasze aufgefallen, auf dem in Dreier- oder Viererreihen jede Menge Taxis mit ihren Fahrern standen und offensichtlich auf Arbeit warteten. Alle leeren Taxis, die mich passierten, steuerten dieses Areal an. Als ich jetzt das Terminal 2 verlasse und einen Taxifahrer frage, ob er mich zum Hotel zurückfahren würde, kommt der der Bitte zwar nach, erklärt mir aber, dasz ich ihn gar nicht hätte fragen dürfen, sondern ganz vorn am Terminal mir hätte ein Taxi suchen müssen. Er ist nämlich noch lange nicht an der Reihe; er fährt vor, wo schon andere Fahrer stehen, und erklärt ihnen, was ich angestellt habe. Sie lachen und winken ihn durch. Er erklärt mir, dasz er nach meiner Fahrt ebenfalls auf das grosze Areal musz, wo er mindestens 3 Stunden stehen wird. Unsere Fahrt dauert keine 10 Minuten und kostet knapp 10 Euro, aber ich lasse mich nicht lumpen und gebe ihm ein groszzügiges Trinkgeld.

 

Jetzt habe ich doch etwas Hunger bekommen, und so streife ich durch dieses grosze, wenn auch ziemlich leere Viertel mit Hochhäusern. Nur wenige Passanten kommen mir entgegen. Rechts ist eine Grünfläche, von kleinen Wegen durchzogen, eine Art Minipark. Dort hält sich eine Familie auf, und der Vater hält gerade seine kleine Tochter über ein Gebüsch. Nee, das will ich nicht sehen.

 

Ich treffe auf ein italienisches Restaurant, das sinnigerweise „The Italian“ heiszt und ziemlich voll besetzt ist. Dahinter ein Schild auf einen REWE-Markt, der bis 22 Uhr geöffnet ist. Dort stelle ich mir aus Brötchen und Brezeln und etwas Wurst und ein paar Äpfeln eine Art Abendessen zusammen und verzehre es auf dem Weg zum Hotel. Dort stelle ich dann fest, dasz ich mir hier auch eine Pizza hätte bestellen können. Ich trinke ein Weizenbier und ziehe mich auf mein Zimmer zurück.

 

Dienstag.

Ich hab gut geschlafen, bin früh wach, dusche und probiere das Bügeleisen aus, womit meinem leicht verknittertes Hemd wieder in eine vorzeigbare Form kommt. Durch den kläglichen Rest an Textilreiniger, dessen Flasche nicht mit nach Amerika reisen wird, riecht's ein wenig besser. Er wird bis morgen durchhalten müssen, sonst reichen meine weiszen Hemden nicht.

 

Die Frühstückstheke läszt nichts zu wünschen übrig, auch wenn ich sie nicht wirklich nutze. Ich werde heute nichts zu tun haben, als zu sitzen und zu essen. Und heute abend noch ‘ne Runde Auto zu fahren.

Ein Taxi bringt mich und meine Koffer zum Terminal 2, wo gar nicht viel los ist. Das Einchecken geht flott und die Sicherheitskontrolle auch. Ich kaufe eine wutzig teure Flasche Sprudel und fülle sie gleich in meine Reiseflasche um. Das ist wohl etwas, was wir nie wieder los werden. Die Sicherheitskontrolle verstehe ich ja noch; aber dasz man keine Flüssigkeiten durch die Kontrolle mitnehmen darf, geht auf den 11. September 2001 zurück, nachdem man annahm, dasz die Attentäter durch Flüssigkeiten einen Sprengstoff zusammenmischen können würden. Natürlich kam nach Nein-Ilewwen sowas nie wieder vor, aber das hinderte und hindert die Sicherheitskontrollen aller Flughäfen auf der ganzen Welt nicht dran zu verlangen, dasz generell alle Flüssigkeiten im Handgepäck vor der Kontrolle ausgeschüttet werden. Natürlich darf man das Blubberwasser danach wieder auffüllen, dafür kostet auf den Flughäfen das Wasser halt ein biszchen mehr. Ein halber Liter Sprudel (meistens ohne Kohlensäure) für 3 bis 4 Euro, das ist doch ein Schnäppchen, oder nicht? Ja, okay, beim Globus kostet eine ganze Kiste genau so viel. Bäh, so denken Krämerseelen, aber keine sicherheitsbewuszten Menschen des 21. Jahrhunderts.

 

Im langen Gang vor den Toren, die hier Gates genannt werden und durch die wir später zum Bus und dann zum Flugzeug gelangen werden, vertreibe ich mir die nächsten zwei Stunden, da ich viel zu früh hierhergekommen bin, mit dem Beobachten der vorbeieilenden Menschen - wer zählt die Völker, kennt die Namen -, Lesen und Dösen. Als schlieszlich der Aufruf kommt, steige ich mit den anderen die Treppe hinunter und in einen Transferbus, der uns über den halben Flugplatz zu einer blauen KLM-Maschine bringt, Tiefdecker, 2 Motoren, die „Cityhopper“ genannt und uns in einer guten Stunde nach Amsterdam bringen wird. Sie ist nur halb voll, und ich habe meinen Fensterplatz Nummer 7 links vor der Tragfläche. Auf 7 rechts sitzt ein Holländer, der den Start nach links raus filmt, was ich mit dem Handy nach rechts tue. Er gibt mir seine Karte, damit ich ihm den Film schicken kann. Der Start verläuft ruhig, und es geht steil hinauf. Der Blick nach unten ist ziemlich klar, und ich schiesze ein paar interessante Aufnahmen. Ein Snack wird serviert, eine Tasse Kaffe und ein in Folie eingepacktes Makronenplätzchen. Sehr süsz, aber nicht extrem süsz. Mir schmeckt's.

 

Nach nicht ganz einer Stunde kippt die Maschine nach vorne, und der Sinkflug beginnt. Unten sieht man jede Menge Kanäle, die wie breite blaue Straszen die Landschaft zerteilen. Ein paar Felder mit sicherlich einigen hundert Metern Durchmesser sehen wie riesengrosze Kuchen aus. Sie sind exakt rund und haben einen Mittelpunkt, zu dem rundum gleichgrosze Felder laufen, am Rand breit, zur Mitte immer kleiner werdend. Dann kommen Gewächshäuser und grosze Tanks, und wir landen in Schiphol, dem Flughafen Amsterdams.

 

Drauszen folge ich der Herde und hätte beinahe den zollfreien Raum verlassen, als ich bemerke, dasz ich falsch abgebogen bin. Ich bin ja Transferreisender; ich bleibe in der Zone, die zur Welt gehört und nicht zu einem bestimmten Staat. Ich bin vielleicht auf holländischem Boden, aber nicht in Holland. Jetzt steht allerdings die Ausweiskontrolle an; während ein Haufen Leute in zwei langen Reihen rechterhand ansteht, kann ich links durch die Kontrolle für EU-Bürger. Der Reisepasz wird eingescannt, eine Kamera schieszt ein Foto von mir. Gewogen und für gut befunden. Der Beamte am Schalter dahinter mustert mich, sagt aber kein Wort und verzieht keine Miene. Kann ich auch. Ich ignoriere ihn und gehe weiter. Ich musz zum Gate 30, und das liegt gefühlt ein paar Kilometer entfernt. Wo ich schlieszlich ankomme, sieht es nicht nach internationalem Flug aus. Die Maschine drauszen sieht genauso aus wie der Cityhopper, hat auch nur zwei Motoren, ist aber bei näherem Betrachten doch eine ganze Ecke gröszer. Die Menge vor dem Gate sieht gelangweilt aus, wird aber ständig gröszer. Bin gespannt, wen ich als Sitznachbarn bekomme.

 

Als wir an Bord gehen, merke ich, dasz mir ein dummer Fehler unterlaufen ist. In der Beschreibung stand, dasz ich zum gleichen Preis einen höherwertigen Sitz erhalten würde, aber nur, wenn ich über Air France buche, statt über KLM. Höherwertig heiszt ein biszchen breiter und mit erheblich mehr Fuszraum. Sonst habe ich drauf geachtet, dasz ich so sitze, dasz sich vor mir kein weiterer Sitz befindet, aber das brauche ich ja diesmal nicht. Dachte ich. Warn Fehlschlusz. Ich hab 'n gröszeren Sitz und mehr Beinfreiheit, aber soviel Platz, den Laptop aufzuklappen, hab ich nicht. Exkrement. Ich wollte mir die Zeit mit Arbeit vertreiben, das kann ich jetzt knicken.

 

Sonst sind wir auch immer mit Air France geflogen, aber über Frankreich mit dem A800. Der hat zwei Passagierdecks übereinander. Im unteren Deck gibt’s fast gerade Seitenwände, in dem Ding kann man herumlaufen. Im oberen Deck - da sieht's ähnlich aus wie hier im jetzigen Flieger. Die Seitenwand rundet sich nach oben. Aufstehen und grad hinstellen ist mir hier am Fenster unmöglich. Dafür geht jener Flug über Charles-de-Gaulles bei Paris, und mit dem Flughafen haben wir so unsere Erfahrungen gemacht, leider eher weniger gute.

 

8 Stunden geht der Flur; eine freudige Mitteilung des Piloten ruft ein Gelächter hervor - er wird eine Viertelstunde Flug sparen können. Klar kriege ich die 8 Stunden rum. Ich unterhalte mich ab und zu mit meiner Sitznachbarin, einer Groszmutter aus Virginia nahe Washington, DC, die ein paar mal im Jahr ihre Enkelkinder in Holland besucht und jetzt auf der Rückreise ist. Dann schalte ich durch das Kinoprogramm und schaue mir den Avenger-Ableger Antman zum xterholten Male an - Michel Pena als Ex-Knacki und Schmalspurgangster ist schon cool - und ab zwei Stunden vor der Landung noch „Der Plan“ mit Matt Damon und Emily Blunt. Da ich beim Flug nicht schlafen kann, hat Anne mir was Homöopathisches gegeben, was müd macht, ohne lang müd zu machen oder so. Als wir oben sind, nehme ich eine, und prompt fallen mir die Augen zu - ob’s davon war? Beim Mittagessen trinke ich’n Bier, okay, aber vielleicht war der Kaffee danach doch kontraproduktiv.

 

Gegen halb vier Ortszeit (plus sechs Stunden in Europa) landen wir in Dulles International einige Kilometer westlich von Washington, D.C. Wir sind von Holland über England und den groszen Teich geflattert und über Kanada und die Ostküstenstaaten nach Süden geflogen. Viel zu sehen gab es nicht, die Schiebeflächen über den Fenstern bleiben dicht, weil dort die Sonne blendend hell hereinscheint. Die letzten Minuten verlieren wir mächtig an Höhe und tauchen in die dicken Wolken ein. Und prompt wird’s richtig schön wackelig. Iiiih, das hasse ich wie die Pest. Aber noch läuft das Personal ganz normal rum. Wenn die sich in der Phase schnell hinsetzen, erst dann musz ich anfangen, mir Sorgen zu machen. Aber sie setzen sich erst, als der Pilot sie dazu auffordert: „Cabin Crew …“. Gegenüber dem Geschaukel grad eben läuft die Landung wie der sonstige Flug: Ruhig; ein kleiner Stosz, dann sind wir unten.

 

Als ich aufstehe und meinen Dreispitz aus dem Gepäcknetz fische, gibt’s ein paar grosze Augen, auch später im Bus zum Terminal. Wieder folge ich der Herde, aber diesmal stehe ich in der längeren Schlange. Im Saal mit der groszen US-Flagge an der Wand verteilen freundliche, aber bestimmte Uniformierten zu den Kabuffs, wo Zollbeamte die Pässe prüfen, wieder ein Foto schieszen und die Fingerabdrücke nehmen. Ich erinnere mich gut an den von 2013, der muszte grinsen, als er mich sah. Der von heute macht ein griesgrämiges Gesicht, aber das mindert meine gute Laune nicht. Ich erreiche die Bänder, auf denen gleich die Koffer kommen, und will mir einen Kofferkuli holen, da erfahre ich, dasz die Dinger sechs Dollar kosten. Das ist viel Geld, denke ich, und lasse es sein. Nicht viel später erfahre ich, dasz sechs Dollar Peanuts sind, hier kostet einfach alles viel Geld. Aber für sechs Dollar kann ich meine Koffer auch ziehen. Ich passiere den Ausgang und betrete die lange Halle, wo immer viele Menschen auf viele Neuankömmlinge warten, ich auch schon mal auf Anne (2013), aber noch nie jemand auf mich (einmal hätte jemand auf uns warten sollen, aber der kam dann nicht (2018))

 

An einem Infoschalter lasse ich mir den Weg zu dem Ort zeigen, wo ein Bus hoffentlich auf mich wartet, um mich zum Autoschalter zu bringen. Die Anweisungen waren klar, glaube ich, aber ich irre ein paar Minuten auf dem Platz vorm Terminal herum, bevor ich auch einem Kleinbus den Namen meiner Verleihfirma finde. Das war zunächst Alamo, ist jetzt aber Thrifty.

 

Wir waren bei all unseren Reisen bei Alamo gewesen. Und so hatte ich auch diesmal schon im März bei Alamo einen Wagen herausgesucht, Toyota Corolla oder so ähnlich. Vier Türen, natürlich Automatikgetriebe, einigermaszen Kofferraum, incl. aller Versicherungen ohne Selbstbeteiligung, mit zweitem Fahrer. So was wollte ich diesmal auch - und fiel fast aufn Hintern, als das Ding für 18 Tage gut 1900 Dollar kostete (mit der Option für 1800 Dollar, wenn ich sofort bezahlen würde). Habs natürlich angenommen. Amerika ist riesig und die Strecken dort wutzelang. Die Eisenbahn ist ein Privatvergnügen; wenn sich eine Strecke nicht mehr rechnet, wird sie stillgelegt und abgewrackt. Was ham wir ein Glück, dasz bei uns die Eisenbahn bislang staatlich war mit dem Ziel der Kostendeckung, aber nicht auf Teufel-komm-raus. Flugzeuge sind gut für lange Strecken, aber für kurz gibt’s nur Taxi, Uber oder Ubahn. Deshalb ist das Auto unentbehrlich. Der Zufall wollte es, dasz ich beim Buchen des Zimmers in Frankfurt via booking.com bei den Zusatzangeboten auf „Mietwagen“ klickte und feststellte, dasz ich hier das gleiche Fahrzeug inkl. Zusatzversicherung plus Zweitfahrer für den gleichen Zeitraum für knapp 900 Euro bekam. War ich froh, dasz ich bei Alamo nicht gleich bezahlt hatte.

 

Ich packe meine Koffer in den Bus und mich hinterher, und er fährt auch gleich los und bringt mich durch das Gewirr von Autobahnen und Zubringerstraszen zu der Anlage, die sich Thrifty mit Dollar teilt. Ich musz ein paar Minuten in der Schlange warten, was ich dazu verwende, Anne zuhause anzurufen, dasz bis jetzt alles gutgegangen ist. Bei mir ist’s jetzt halb fünf, bei ihr schon halb elf. Bei mir natürlich auch, aber die Uhr über dem Schalter sagt was anderes. Ein Typ spricht mich an, ob er ein Foto machen dürfe. Na klar doch. Wenn man so wie ich rumläuft, wollen die Leute Fotos machen. Bei uns knipsen sie einfach drauflos, aber in Amerika sind sie höflich und fragen erst. Immer noch in der Schlange fragt mich der Mann hinter mir, ob ich ein Reenactor sei. Das sind die Typen, die Historisches nachstellen, z.B. den amerikanischen Bürgerkrieg. Als er erfährt, dasz ich aus Tschörmenni bin, will er das genau wissen, und so vergeht die Zeit, bis ich an der Reihe bin, wie im Fluge. Ich präsentiere meine Reservierung, meinen Führerschein und meine Kreditkarte, lehne die Karte für das automatische Mautsystem („tollroad“) ab (die wollen 20 Dollar extra - pro Tag! Gut, dasz ich’s nicht akzeptiere. Ich fahre in den nächsten 17 Tagen genau dreimal über Mautstraszen) und bin 10 Minuten später stolzer Besitzer eines Hyundai. Ähm, das könnte ein I30 sein, sieht jedenfalls so aus wie der, den ich später auf Hyundais Website sehen werde.. Jedenfalls war er rot. „Suchen Sie sich einen raus“, hat man mir gesagt. Also nehme ich den Roten. Weil mein Auto zuhause auch rot ist und weil ich 'nen Roten unter Amerikas Grauen oder Silbernen viel besser erkenne.

 

Den Schlüssel finde ich unter der Bodenmatte des Fahrerraums. Zefix, das ist ja gar kein Schlüssel, sondern nur eine Fernbedienung mit Knöpfen. Gestartet wird er mit einem Startknopf. Ich packe die Koffer in den geräumigen Kofferraum, steige ein und fummele das Navi aus meinem Rucksack. Schon siehts auf dem Beifahrersitz aus wie bei Hempels unterm Sofa. Ich schliesze das Kabel an das Navi an, nee, ich versuche das Kabel ans Navi anzuschlieszen, aber das Ding paszt nicht. Exkrement. Navi - in Amerika „GPS“ (tschi-pi-ess) genannt - ist in den USA ein Musz. Für mich auf jeden Fall, seit wir 2012 nach New Jersey fahren wollten, um von dort aus New York City zu besuchen. Wir kamen auf der dreispurigen Strasze durch Pennsylvania und dann über einen Hügel hinunter ins Tal – und ein biszchen kam ich mir vor wie Moses, als er den Jordan erreichte und Gott ihm sagte, dasz er das gelobte Land nie betreten würde. Denn vor uns teilte sich die dreispurige Strasze – eine Spur ging nach links, eine nach rechts und eine gerade aus. Wir wussten nicht, welche die richtige ist, also fuhren wir nach rechts und brauchten dann 3 Stunden, um dort wieder rauszukommen – davon eine Stunde, um auf der Karte, die wir hatten - Triple A Karten sind eine Katastrophe! – herauszufinden, wo wir überhaupt waren. Danach fuhr ich nie in die Staaten ohne Navi. Bisher hatten wir’s immer zusammen mit dem Auto gemietet; aber diesmal hat mir jemand geraten, statt der 200 Dollar für das Navi lieber eins in Deutschland mit amerikanischen Karten für weniger als die Hälfte zu kaufen. So erstand ich ein TomTom für ein gutes Stück weniger als 100 Dollar. Da aber nur amerikanische Karten aufgespielt waren, hielt ich es nicht für sinnvoll, es zu Hause einmal auszuprobieren. Ja, man lernt nie aus. Das Navi funzte vermutlich vorzüglich, aber ohne Kabel, um es aufzuladen, war das Ding im wahrsten Sinne des Wortes nur tote Hose.

 

Ich fummele noch ein biszchen dran herum und entdecke, dasz zwar der Stecker in die Buchse paszt, aber nicht der Gummi um den Stecker in die Öffnung zur Buchse. Es ist zum Verzweifeln. Also stöpsele ich kurzerhand das Handy mit dem USB-Kabel in den Port des Autos, starte google maps - und es funktioniert. Ich gebe das Ziel ein: „Hancock, Maryland“, und das Programm weist auf eine Mautstrasze und eine mögliche Umgehung hin. Ich wähle die Umgehung - 10 min länger, davor für Umme - und fahre los. Ein biszchen Smalltalk mit dem jungen Mann an der Ausfahrt, der erst alle Papiere prüft, bevor er mich rausläszt. Google maps lotst mich mit präzisen Anweisungen auf Deutsch über den Autopilot Drive in die Materials Road (Jerres, ham die hier Straszennamen) und den Ariane Way durch ein weitläufiges Industriegebiet aus dem Flughafenbereich heraus bis zur Old Ox Road. Hier stehe ich zum ersten Mal wieder mitten im amerikanischen Straszenverkehr und darf kurz die unzähligen Ampeln bestaunen, die oben über der Strasze an ihren zahllosen Leitungen sanft im Wind schwingen. Eine der vier da oben ist für mich. Als alle bis auf die ganz rechts auf „grün“ springen, drücke ich aufs Gas und biege ab. Nach ein paar hundert Metern heiszt man mich nach rechts auf eine Zufahrt hinunter auf die 267 North, und das ist eine Mautstrasze. Hm. An der Durchfahrt gibt’s immer zwei Möglichkeiten; man hat ein Mautgerät und fährt auf der linken Spur einfach durch, oder man hat keins, dann musz man halten und entweder eine Karte ziehen oder löhnen. Letzteres geht meistens mit der Kreditkarte. Ich fahre dicht an den Schlitz für die Kreditkarte und schiebe sie erstmal verkehrt rum rein. Wieder raus und wieder verkehrt rum. Für „verkehrt rum“ gibt’s drei Möglichkeiten, nur eine - die mit dem Chip oben oder unten, auf jeden Fall vorne - ist richtig. Gottlob ist keiner hinter mir, der es eilig hat, als ich dort den Arm fast überdehne, damit er durch das Fenster an die Maschine paszt. Ist überall ein biszchen anders. Gottlob ist die Maschine viel geduldiger als ich und taub.

 

Auf der 267 North - genannt „Dulles Greenway“ - ist schon erheblich weniger los. Die Geschwindigkeit - in Meilen pro Stunde - wird mit 65 angegeben, das sind ungefähr 105 km/h. Hört sich wenig an für deutsche Verhältnisse, aber die Rillen in der Strasze, die Hebungen und Senkungen und vor allem die Schlaglöcher erinnern auch nicht wirklich an deutsche Verhältnisse. Ich werde später auf schlechteren Straszen noch schneller fahren, aber nicht heute. Auf der Greenway bleibe ich bis Leesburg, einer Kleinstadt mit 45.000 Einwohnern, etwa 60 Kilometer nordwestlich von Washington gelegen, die im Britisch-Amerikanischen Krieg von 1812 und später im amerikanischen Bürgerkrieg ihre Rolle spielte. Überhaupt werde ich auf den späteren Fahrten immer wieder auf Orte stoszen, die gerade im Bürgerkrieg Schauplätze von Kämpfen und ganzen Schlachten waren. Weniger in Ohio und Indiana und auch nicht im Bundesstaat New York, aber in Pennsylvania und Virginia zuhauf.

 

In Leesburg verlasse ich die Mautstrasze und biege auf die „Virginia 7“ und kurz darauf auf die „Virginia 9“ und dann geht’s nach Norden - vier Wochen später, als ich am Computer versuche, den Weg nachzuvollziehen, kommen mir Zweifel, ob das wirklich sinnvoll war - immer weiter nach Norden. Diese Ecke ist ein riesiges Weinbaugebiet, wie auf zahlreichen Schildern zu lesen ist: Village Winery, Carriage House Wineworks, Hope Flower Farm & Winery. Man möge mir verzeihen, dasz ich aus der Ecke keine Fotos mitgebracht habe. Die Straszen sind eng und kurvenreich, laufend geht es ein Hügelchen hinauf und ein Buckelchen wieder runter. Und links und rechts stehen auch mal alte Steinhäuser, und die Wiesen sind eingerahmt von langen weiszen Lattenzäunen, wie ich sie mir für Virginia vorstelle.

 

Ich bin hier vermutlich der einzige, der sich an die Geschwindigkeitsbeschränkung hält, sehr zum Leidwesen der Fahrer hinter mir. Bei Waterford nur ein paar Meilen hinter Leesburg bin ich schon das Haupt einer erheblich langen Schlange dicht aufeinander fahrender Autos. Nicht, dasz die „schieben“ - ähm, „schieben“ ist doch was anderes, als gefühlte fünfzig Zentimeter hinter einem herzufahren, oder?. Irgendwann setze ich den Blinker, biege auf einen Parkplatz ab und lasse den ganzen Pulk hinter mir vorbei. Immerhin schaffe ich es mindestens zwei Meilen weiter, ehe das Sammeln wieder losgeht.

 

Wieder geht es einen Hügel runter und unten in einer weiten Linkskurve wieder hoch. Ich überhole einen Radfahrer und wundere mich, dasz die Schlange hinter mir - Einheimische, denen ich definitiv zu langsam fahre, die aber die Strecke kennen und nicht überholen - hinter ihm bleibt. Ich komme oben an, da biegt die Route scharf nach rechts ab, und die Geschwindigkeit fällt auf 40 Meilen pro Stunde (65 km/h). „Stumptown Road“ heiszt jetzt der Weg, der zwischen Wäldern, Gebüschen und langen Wiesen hindurch auf eine Straszenkreuzung hinsteuert, die mir bekannt vorkommt. Alte Holzhäuser - die einen nennen sie vergammelt, die anderen nostalgisch -, in denen Antiquitäten („Trödel“) angeboten wird, „The Cottage“ linkerhand, „The Old Lucketts Store“ zur Rechten und hintendran „The Foundry“, wo es alte Möbel gibt.

 

Und wenn ich jetzt nach links abbiege, dann ist linkerhand ein Schotterparkplatz und eine ziemlich heruntergekommene Tankstelle. Ja, genau da steht sie. Hier war ich schon mal, aber wann?

 

 

 

Ich halte an und betrete den Laden, der zur Tankstelle gehört. Ich bin nicht sicher, aus welchem Land die Betreiber in die USA kamen, aber von hier sind sie nicht. Ich kaufe mir eine Cola und fahre weiter. Hätte ich eine Karte - die ich nicht habe -, wüszte ich, dasz mich das Navi zwar westlich um Leesburg herum geleitet hat, aber dann nördlich der Stadt wieder auf die Virginia 15, ggf. um eine Mautstrasze östlich der Stadt zu vermeiden. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, geht es nach der Straszenkreuzung „Lucketts“ jetzt eine Zeitlang bergabwärts durch dichten Wald. Und dann kommt eine Brücke über einen breiten Flusz, und die Brücke hat eine blaue Stahlkonstruktion, die sie wie ein Faradayscher Käfig überspannt oder-und zusammenhält.

 

Der Wald wird dichter, das „bergab“ endet, und hinter einer langen Biegung kommt die Brücke; sie führt über den Potomac, der 10 Kilometer weiter nördlich bei Harper’s Ferry den Shenandoah River aufgenommen hat. Ich grüsze sie wie einen alten Freund. Ja, hier war ich schon mal. Vor langer Zeit. Das kann 1995 bei unserem ersten Amerikabesuch gewesen sein, als wir mit Reiner Künzer von Norfolk, Virginia, durch das Shenandoah-Valley kamen und über Gettyburg nach Washington fuhren. Irgendwo habe ich von der Brücke noch ein Foto, glaube ich.

 

Jenseits des Potomacs steigt die Strasze wieder durch den Wald und zieht ziemlich gerade nach Norden. Auf der Brücke habe ich schon wieder den Bundesstaat gewechselt. Gelandet bin ich in Virginia, jetzt komme ich nach Maryland. Nahe Frederick schlägt die Strasze eine Schleife, und ich fahre auf der Interstate 70, die nach dem amerikanischen General des Zweiten Weltkriegs und späteren Präsidenten „Dwight D. Eisenhower Highway“ genannt wird, bis nach Hancock, Maryland, meinem Tagesziel für heute, das ich nach einer guten Stunde und 55 Meilen später erreiche.

 

War der erste Teil der Strecke noch toll anzusehen, ist die Interstate schon eine Autobahn, die relativ nüchtern ihre zahllosen Meilen abspult, mehr auf Erfahren als Erleben bedacht. Eins fällt mir allerdings auf, und das sind die vielen Kadaver am Straszenrand. Das beginnt im Prinzip nach der Brücke, also in Maryland. Ich selbst hab noch keine Rehe gesehen, und ich will auch nicht erleben müssen, wie das ist, wenn so ein Tier in vollem Galopp mit meinem Auto kollidiert. Die Tiere haben da keine Chance, schon gar nicht bei den dicken Lkws, die hierzulande die Strasze bevölkern. Was ich nur nicht verstehe, ist, dasz sich niemand um die Kadaver kümmert. Hierzulande macht man doch aus allem Geld, also wird es doch sicher auch Unternehmen geben, die sich um die totgefahrenen Tiere am Straszenrand kümmern. Die Kadaver liegen dort in jedem Zustand in der Hitze des Tages - von „noch nicht lange tot“ bis aufgedunsen bis „stark in Verwesung übergegangen“. Und vermutlich bis die Knochen irgendwann mal vergangen sind. Und niemand kümmert sich darum. Das ist nur eklig. Ihre Zahl wird nur übertroffen von den Resten abgefahrener und geplatzter Reifen. „Unschön“ trifft es nicht halbwegs.

 

Mein Tagesziel Hancock ist ein kleines Kaff von grade mal 1725 Einwohnern (laut Volkszählung von 2000), das aber verkehrsgünstig liegt, denn in seiner Nähe biegt die Interstate 68 von der I-70 ab. Letztere führt nach Nordwesten über Pittsburgh, Pennsylvania, nach Cleveland, Ohio. Diese Route könnte ich morgen auch nehmen und wäre sogar vermutlich eine halbe Stunde eher dort. Aber ich werde auf die I-68 nach Westen abbiegen und die Hügel Nordpennsylvanias überqueren auf meinem Weg nach Westen.

 

Die Strasze führt knapp am Ort vorbei und über eine lange Brücke wieder über den Potomac. Erst als ich über dem Flusz bin, merke ich, dasz ich die Zufahrt zu meinem Motel knapp verpaszt habe. Drüben in Pennsylvania drehe ich wieder um und fahre zurück.

Das Hancock Motel, das in den Rezensionen bei google sehr gut abgeschnitten hat, ist mein erstes Motel überhaupt. Es besteht aus einem Hauptgebäude mit Anbau, in dem sich früher wohl auch einmal eine „Bar“ befand, was man bei uns zuhause eine Kneipe nennen würde. Die junge Dame hinterm Schalter hat einen eigenartigen Akzent. Vermutlich aus Europas Osten.

 

 

Das Motel besteht aus einem einzigen langen Gebäude in einer etwas runden L-Form, in dem um die 20 Zimmer mit Bad nebeneinander eingebaut sind. Nach vorn raus ist eine kleine Veranda und unmittelbar davor der Parkplatz fürs Auto. Ich habe 101, das erste Appartement in der Reihe. Ich bin vom Innern sehr angenehm überrascht. Ein groszer Raum mit Sitzgarnitur, Kommode mit Fernseher, Kühlschrank, Mikrowelle und Kaffeemaschine. Gegenüber ein groszes Bett. In einer Zimmerecke das Bad. Alle Fenster nach amerikanischem Stil offenbar sowie mit Fliegenschutzgitter versehen. Die Badewanne ist ein wenig abgenutzt, aber alles ist sauber, wie es sein soll, und riecht nicht. Der Charme der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird hier nicht versprüht, aber doch vermittelt. Mir gefällt's.

 

Ich schleppe den groszen Koffer ins Zimmer und gehe unter die Dusche und dann ziemlich schnell in die Falle. Denn mittlerweile ist es kurz vor acht Uhr abends Ortszeit, also 2 Uhr morgens in Deutschland. Etwas brummt - in Intervallen, immer wieder mal. Kaum hab ich ein Auge zu - bróóóm - Stille. Das ist der Kühlschrank, leer, aber wach. Das ändere ich, in dem ich dem Kabel folge und den Stecker ziehe. Stille. Gut.

 

Irgendwann um 2 Uhr morgens werde ich wach durch einen schweren Lkw, der sich auf der etwa 150 m entfernten Strasze vorbeiquält. Nun ja, es ist ein Motel, es liegt zwangsläufig nahe einer Strasze, und dort fahren Autos. Ich drehe mich nochmal um und schlafe weiter. Aber nach zwei weiteren Stunden geht das Rumdrehen nicht mehr; ich beschliesze weiterzufahren.

 

Mittwoch.

Entgegen meiner Buchung gibt es wohl doch kein Frühstück. Was nicht weiter tragisch ist, weil ich jetzt um vier Uhr sowieso keins kriegen würde. Ich braue mit der seltsamen Kaffeemaschine einen Instantkaffee, der zwar geschmacklich nicht zu den Topkreationen der Welt zählen kann, aber stark ist und wach macht - und wach hält. Das Wasser in der Dusche ist heisz; das weisze Hemd - jetzt schon anderthalb Tage und ca. 6000 Kilometer im Einsatz - freut sich schon auf eine ähnliche Behandlung (heiszes Wasser), aber heute musz es noch durchstehen. Es ist leicht zerfranselt und sieht in Zusammenhang mit Dreiviertelhose, weiszen Strümpfen (das zweite Paar - das erste hab ich gestern abend mitgeduscht, aber das ist noch nicht trocken und kommt hinten im Auto auf die Ablage), brauner Jacke und Dreispitz cool aus. Der Koffer wird wieder gepackt. Den Abschlusz bildet mein kleiner Teddybär, der mich heuer auf dieser Reise begleitet - der Ipiep (das ehemals gelbe Plüschtier, das seit über 30 Jahren stets auf Reisen dabei ist) wird am Samstag mit Anne nachkommen.

 

Den Kühlschrank stecke ich wieder ein, er brummt glücklich wieder los. Ein letzter Blick durchs Zimmer und noch das Bett abgezogen. Drauszen ist es noch dunkel. Grillen zirpen im Dickicht hinterm Haus; ein gelber Mond hängt oben über dem Haus. Mein Auto wartet schon. Allez dann. 5.13 Uhr Ortszeit.

 

Mein erster Stopp ist in Hancock selber. Ich brauche eine Karte, denn das Navi funzt ohne Kabel natürlich immer noch nicht, und das Handy hat kein Netz mehr. Ich bin navigatorisch blind. Das einzig gute ist, dasz ich die Strecke pi-mal-daumen im Kopf habe. Ich weisz, wo ich hinwill und ungefähr, wie ich dorthin komme.

 

Hancock liegt noch im Halbdunkel, als ich von der 522, die auf einer hohen Brücke über den Ort führt, abbiege und die West High Street und die Virginia Avenue in den Ort hinunterfahre. Direkt an der ersten Straszenkreuzung steht links eine Tankstelle, dicht dabei ein Gemischtwarenladen namens Sheetz. Sheetz ist eine Kette, auf die ich in den nächsten Tagen immer wieder stoszen werde. Eine Mischung aus Tankstelle, Geldautomat und halt eben dem Laden. Die Sachen, die’s dort zu kaufen gibt, sind typisch amerikanisch, sprich: süsz und babbisch und teuer.

 

Ich parke meinen Wagen, steige aus und drücke auf die Fernbedienung, um ihn abzuschlieszen. Es summt laut und lange; probehalber ziehe ich am Griff, und die Tür geht auf. Öhm, sollte sie nicht. Ich drücke wieder, es summt nicht, und die Tür geht auf. Es folgt der erste - noch leise - Fluch des Tages, nicht der letzte Fluch für heute, wohl aber der letzte leise. Ich spähe durch die Scheibe der Tür; im Display des Armaturenbretts wird angezeigt, dasz sich der Schlüssel nicht im Auto befindet. Nee, isser auch nicht, ich halte ihn ja in der Hand. Tür auf, Tür zu, abgeschlossen, Summen, Tür ist auf. Exkrement.

 

Also das nervt jetzt: kein Navi und die Tür vom Auto läszt sich nicht abschlieszen. Ein Schlüssel ist ja an der Fernbedienung nicht dran, wie soll ich die Kiste jetzt zu kriegen? Merde.

 

Aber ein Problem nach dem anderen. Vielleicht wissen die da drin Rat. Wissen sie nicht. Auch von ihnen erfahre ich das Einwandererland nicht; eigentlich erfahre ich von dem Angestellten nur sehr wenig, weil sein Akzent mit meinem nicht kompatibel ist. Ich kaufe mir einen Kaffee und irgendwas, was nach Apfeltasche aussieht, sich später als recht klebrig und brutal süsz herausstellt. Das wird mein Frühstück. Als ich den Laden verlasse, fragt mich ein Passant (sehr früh für einen Passanten), ob er mir helfen könne. Auch wenn er nicht wirklich so aussah, als ob er mir helfen könne und es auch wirklich nicht kann, hat mich seine bedingungslose Höflichkeit sehr beeindruckt. Letztere wird mir in den nächsten Tagen immer wieder begegnen.

 

Bevor ich losfahre, beschliesze ich aufzutanken. Sind heute ein paar Kilometer, die Restfüllung wird nicht reichen. Ich lokalisiere das Tankschlosz auf der Fahrerseite, öffne mit dem Hebel unten am Sitz und wende mich der Zapfsäule zu. Hier geht alles automatisch. Die Kreditkarte wird verlangt, die musz hier rein. Dann fragt mich das Ding nach meiner PIN? Hä, denke ich, Pin bei ner Kreditkarte? Stimmt, erinnere ich mich etwas spät, das wollten die letztes Mal auch schon wissen. Gut, dasz ich mir das aufgeschrieben habe. Irgendwo in der Laptoptasche ist der geheime Zettel mit den noch geheimeren Codes; das Suchen macht das Durcheinander auf dem Beifahrersitz nicht besser, aber es ist ja für einen guten Zweck, ähm. Da ist der Pin, ich tippe ihn ein - falsche Angabe. Mist, vertippt. Nochmal eingeben - falsche Angabe. Nächstes böses Wort.

 

Sie können den Pin umgehen, sagt die Maschine. Ei, dann machen wir das doch, denke ich. Ich folge den Anweisungen bis „Enter“, dann lese ich die Mitteilung: „Access denied“ - kein Zugriff. Nochmal das Wort mit dem weichen Endprodukt. Ich frage im Sheetz nach, aber wie schon geschrieben: Akzent steht gegen Akzent. Entweder versteht er nicht, was ich ihm sagen will, und ich kann es ihm auch nicht wirklich gut erklären. Also beschliesze ich, nach diesem wirklich glorreichen Beginn des Morgens, der langsam zu grauen anfängt, erstmal loszufahren. Ich komme noch über 300 Meilen weit mit dieser Füllung, da wird sich sicher noch etwas ergeben. Manchmal hilft Nachdenken.

 

Aus der Tiefe der Stadt fahre ich die Rampe hinauf zum Highway, der sich gleich in eine Spur nach Norden und eine nach Westen teilt. Ich schlage die zweite ein, schalte den Tempomat ein und lasse das Auto rollen. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, auf der langen Strasze nach Westen (Route 68) gibt es nur mich und ein paar Lkws, die Bäume links und rechts, ab und an ein Pkw und natürlich die Tierkadaver am Straszenrand.

 

Immer wenn man auf einer amerikanischen Interstate eine Bundesstaatsgrenze überquert, findet man auf den nächsten Meilen entlang der Strecke ein sog. „Welcome Center“, an dem man im Bundesstaat begrüszt wird. Dort kann man eine Rast einlegen und sich über alle möglichen Aspekte dieses Bundesstaats vieler Faltblätter informieren, an einem Automaten einen Kaffee oder ein paar Süszigkeiten kaufen und auf die Toilette gehen. Am „Welcome Center“ gibt’s gemeinhin keine Tankstellen oder Fastfood- noch sonstige Restaurants, und man kann es nur von der Autobahn her erreichen. Ich halte dort gerne und schaue mich um, bevor ich mich wieder auf den Weg mache. Ober an der Grenze von New York nach Pennsylvania auf dem Weg nach Süden über Williamsport und dann am Susquehanna entlang gibt es auf der Talseite ein solches Center, das wir schon ein paar Mal besucht haben. Es ist das PA Welcome Center Rt 15 South, von dem man einen fantastischen Blick hinunter ins Tal auf den Tioga River und seinen Stausee hat. Ende nächster Woche werden wir dort auch wieder vorbeikommen.

 

Jetzt aber staune ich nicht schlecht, als am Ende einer Steigung genau ein solcher Rastplatz angekündigt wird, das Sideling Hill Welcome Center, etwa 15 Meilen westlich von Hancock. Äh, mitten in Maryland? Gut, die Grenze nach Pennsylvania ist nur 500 Meter nördlich. Aber ein Weg führt nicht dorthin. Maryland dehnt sich nach Osten noch 150 Meilen und nach Westen noch 70 Meilen aus, und ein Flugplatz ist auch nicht in der Nähe. Egal, bin froh, dasz das Center da ist. Leider hat es noch geschlossen, es ist ja auch erst 5 nach 6 Uhr am Morgen. Hier. Hm, zuhause ist es jetzt schon 12 Uhr mittags. Vielleicht läszt sich mein Pin-Problem lösen. Ich rufe meinen Kreditkartenservice an - in Berlin, Deutschland. Die Verbindung klappt ohne Probleme. Dort erfahre ich, dasz man mir nicht helfen, denn den Pin richte ich mir selbst ein. Einfach in meinen Account einloggen und den Wunschpin meiner Wahl einsetzen. Ganz einfach, wenn man Internet hat.

 

Nun, die Landschaft hier ist toll, da drüben über den Bergen jenseits des Tales geht gerade die Sonne auf. Sie bringt einen schönen Tag, aber kein Wlan. Ein paar andere Fahrer halten, stutzen kurz ob meines Outfits, nicken mir zu und verschwinden hinterm oder im Gebäude. Oh ja, ‘ne Toilette wäre nicht verkehrt. Ich steige aus, das Auto piept, die Tür geht zu, das Auto brummt vernehmlich und lange. Absperren läszt es sich natürlich nicht. Dafür wird das Foto der aufgehenden Sonne nicht schlecht. Und da niemand weisz, dasz die Karre nicht abgesperrt ist, und niemand vermutet, dasz die Karre nicht abgesperrt ist, gehe ich zum Gebäude, obwohl die Karre nicht abgesperrt ist. Ich finde die Toilette, aber - fragen Sie nicht - klar, ist auch abgesperrt. Also musz einer der Bäume im Hintergrund herhalten; darf mich nur keiner sehen, sonst werde ich eingesperrt. So ist das in Amerika. Alle Lebewesen dürfen pinkeln, wann und wo sie wollen. Nur nicht die, die angeblich denken können. Denk Dir mal sowas …!

 

In einem der dümmsten Filme, in denen John Travolta je mitgespielt hat, gibt es eine Szene, in der in einer fernen Zukunft zwei Männer in einem gestohlenen Flugzeug unterwegs sind. Der eine sagt: „Wir müssen hier sein!“ und zeigt auf eine Karte. „Nee“, sagt der andere, „kann nicht sein. Diese Linie haben wir noch nicht überflogen!“ Und zeigt auf einen Längengrad. Auf meinem Weg nach Westen überquere ich zahllose Längen- und wegen des Schlangenlinienverlaufs der Interstate auch Breitengrade und noch andere Linien, auch wenn ich keine Karte zur Hand habe. Nur ein paar Meilen - manchmal weniger als zwei - nördlich von hier führt die Grenze zwischen Maryland und Pennsylvania schnurgerade von Osten nach Westen, fast quer über die schräg von Nordost nach Südwest verlaufenden Appalachen mit ihren unzähligen Berglinien und Zwischentälern hinweg, und ich steuere gerade auf die Grenze von Maryland und West Virginia zu. Nicht weit vor dieser starte ich einen zweiten Versuch, so gegen halb acht.

 

Ein Schild zeigt die Stadt der Freunde an; das liest sich doch gut, und ich rolle die Ausfahrt hinunter. Friendsville ist ein kleines Nest am Youghiogheny River, der hier den Zusatz „Lake“ trägt, weil er ein Stück weiter aufgestaut wurde. An diesem Flusz (ein paar Meilen nördlich) liegt das Haus „Fallingwater“ (sollten Sie googlen, ich bin erst auf den Namen gestoszen, als ich den unmöglichen Namen des Flusses nachgeschaut habe). Friendsville, das ich auf der Maple Street über eine Brücke am Flusz, wo linkerhand Schlauchboote und Kajaks auf energischen Wassersport hindeuten, durchquere - einmal hin, einmal zurück - liegt um diese Uhrzeit noch im Dornröschenschlaf. Von seinen 438 Einwohnern (Stand: 2020) läszt sich keiner blicken; ich sehe noch nicht mal das obligatorische graue Eichhörnchen, das hier in Amerika „squirrel“ genannt wird. Die Tankstelle in der Ortsmitte ist natürlich auch noch zu; davor stehen vier Zapfsäulen, beleuchtet, alle mit Kreditkarten zu bedienen. Vermutlich auch nur mit Pin. Ich mache mir nicht die Mühe, dort anzuhalten, sondern fahre auszerhalb des Ortes über eine lange Rampe zurück auf die Autobahn. Ein paar Meilen danach kommt die Staatsgrenze, aber das Schild zum nächsten Visitors Center musz ich übersehen haben.

 

Die nächste halbe Stunde gebe ich richtig Geld aus, indem ich ein paar Telefonate nach hause führe, ohne mir darüber im Klaren zu sein, was die tatsächlich kosten werden. Wobei - ich hätte vermutlich trotzdem angerufen. Ich rufe zuhause an und labere unseren eigenen Anrufbeantworter voll, weil ich die Idee habe, meine Frau Anne könnte von zuhause aus die Pin einrichten (hätte sie können, wenn sie zuhause und nicht auf der Arbeit gewesen wäre). Dann rufe ich eine Freundin an, die in Saarbrücken im Krankenhaus liegt, und nachher noch meinen Vater, den ich bitte, sich nachher mit Anne in Verbindung zu setzen, damit sie mich anruft. Eine gute Viertelstunde rufe ich wieder zuhause an und sage dem Anrufbeantworter, er soll Anne sagen, dasz sich die Sache erledigt hat, und dann noch meinen Vater, damit dieser nicht bei Anne anruft, was er aber schon getan hat, also dann bitte nochmal anrufen, es hat sich alles geklärt. Ja, wenn ich Chaos anrichte, dann aber gründlich.

 

Oh, Sie wollen wissen, was zwischen den ersten und den zweiten Anrufen lag?

Morgantown, West Virginia.

Buchstäblich.

 

Die 30.000-Einwohner-Stadt macht von der Autobahn - von Osten kommend - nicht viel her - man sieht sie gar nicht. Ich komme in einer weiteren dieser ausufernden Schleifen von Süden und überquere nach links eine etwas breitere Wasserfläche, augenscheinlich ein See, der durch einen aufgestauten Flusz entstanden ist (später erfahre ich, dasz es sich um den Cheat River handelt, der hier gerade zum Cheat Lake geworden ist, ohne allerdings jemals zu wissen, wer hier wen betrogen hat [to cheat = betrügen]). Danach ist die Autobahn links und rechts von Büschen gesäumt, die den Blick ins Dahinter unmöglich machen. Und dann ist plötzlich meine Autobahn zu Ende, was saublöd ist, denn ich will doch weiter nach Westen. Aber die I-68 endet hier bzw. mündet in die I-79, und die gibt’s gleich zweimal, eine führt nach unten (South) und eine nach oben (North). Für einen mit Karte oder Navi kein Problem, aber für einen navigatorisch Stockblinden wie mich eine Herausforderung, die binnen 1 Meile eine Entscheidung verlangt. Nun, ich weisz, dasz irgendwo hier geradeaus Columbus, Ohio, liegt und ich um die Stadt herum und dann nach Nordwesten musz, da scheint es mir nicht sinnvoll, nach Süden zu drehen. Und da Gott mit den Dummen sein soll, ist er jetzt hier wohl mit mir. Ich nehme die Ausfahrt nach Norden und überquere gleich den nächsten Flusz mit noch unmöglicherem Namen als vorhin: den Monongahela River.

 

Die verbleibenden Meilen auf dem Tacho sind jetzt merklich weniger geworden, dafür ist die Zeit fortgeschritten. Und da sowieso grad praktischerweise meine Blase drückt, nehme ich aufs Geradewohl die nächste Ausfahrt, was zu einem Schlüsselerlebnis wird - wiederum im wahrsten Sinne des Wortes. Schräg gegenüber der Ausfahrt liegt jenseits einer breiten vierspurigen Strasze ein Laden mit roter Fassade und breiten Fensterscheiben, der nennt sich „Advance Auto Parts“ und beherbergt ein Ersatzteilgeschäft für Kraftfahrzeuge. Dort kriege ich sicher ‘ne neue Batterie für meinen Autotüröffner. Im Laden ist es angenehm kühl, und der Mann hinterm Schalter wünscht mir einen guten Morgen. Ich schildere mein Problem, worauf er den Türöffner nimmt, um ihn zu untersuchen. Er zieht an der oberen silbernen Kappe und hält den Autoschlüssel in der Hand, von dessen Existenz ich überhaupt nichts wuszte. Zefix, zefix. Schnell tauscht er die kleine Batterie aus. Super. Ein Problem gelöst.

 

 

 

Und gleich drauf löst er das zweite auch noch. Als ich bezahle, sage ich ihm, dasz ich den Pin der Kreditkarte nicht kenne, worauf er mich verdutzt anschaut. „Die brauchen Sie hier nicht!“ Ich schildere ihm das Problem mit den Tanksäulen, dem Pin und der Kreditkarte. Da zeigt er auf die Tankstelle auf der anderen Seite der Strasze und gibt mir einen Tip. Einen sauguten Tip, wenn er auch meinen monetären nicht haben will [äh, nicht wirklich gutes Wortspiel: das amerikanische Trinkgeld wird dort „tip“ genannt].

 

Ich überquere die Strasze und stelle mich an der Exxon-Tankstelle vor den Tankautomaten. Vorsichtshalber probiere ich es, aber Pustekuchen, das Ding will die Pin. Also stolpere ich in den Laden, wo mich ein Mann um die 50, ernste Miene, dunkle Haut, sehr geschäftsmäszig, dabei aber freundlich und zuvorkommend, nach meinem Begehren fragt. Ich schildere ihm das Problem, und er hat die gleiche Idee wie sein Nachbar von gegenüber: Ich präsentiere meine Kreditkarte, er belastet sie mit dem Betrag, den ich ungefähr brauchen werde. Dann tanke ich, und er zahlt den überschüssigen Betrag auf die Karte zurück. Und das funktioniert einwandfrei. Ich mache den Tank voll und bezahle am One Stop #513 an der Fairmont Road in Morgantown, WV, für knapp 6 Gallonen Sprit (das sind etwa 22 Liter Benzin) 18,21 amerikanische Dollar. Das sind etwa 16,62 Euro, womit der Liter Sprit etwa 75 EU-Cent kostet. Mir treibt es fast das Wasser in die Augen, als ich diesen Preis sehe. 75 Cent pro Liter; zu hause habe ich letztes Jahr einmal 2 Euro pro Liter bezahlt. Die Tankstelle nehme ich glatt mit nach hause. Ich bedanke mich sehr bei dem Mann von der Tankstelle und frage schnell noch nach dem Weg. Ich soll weiter der Interstate folgen. Sie bringt mich nach Washington, Pennsylvania, und von dort weiter auf der I-70 nach Ohio. Ist noch ein Stück. Als ich nach einer gedruckten Karte frage, schüttelt er den Kopf. Wird heute nicht mehr nachgefragt, heute geht alles elektronisch mit Handy und GPS.

 

Die Interstate steigt wieder an in die Berge im nördlichen West Virginia, als ich meine genannten Telefonate führe. Nach gut 10 Meilen überquere ich die Grenze nach Pennsylvania und halte kurz darauf am dortigen Welcome Center I-79. Das ist eine eindrucksvolle Anlage, groszzügig rechts der Strasze mit weitem Parkplatz im Halbrund. Eine Stele direkt am Eingang erinnert an die Bergleute, die etwa 150 Meter genau unter dieser Stelle bei einer Explosion ums Leben kamen. Am frühen Samstagnachmittag des 6. Dezember 1962 hatten sich die Lüftungsventilatoren in der vollmechanisierten Robena-Mine abgeschaltet. Tief im Bergwerk sammelten sich Kohlenstaub und Methangas und wurden durch einen Funken entzündet. Durch Verbindungstunnel wurden noch zwei Meilen entfernt Bergleute umgerissen. 133 entkamen dem Unglück, 37 nicht.

Ihre Namen kann man auf der Stele lesen:

 

Adam Andrews Jr., Norman A. Benninghoff, William J. Blacka, James H. Boyd, Albert Bronakoski, Nicola Caromano, Albert Cavalcante, Frank Hainzer Jr., James W. Hribal, Frank Hudock, Andy J. Hvizdos, John Karlyak, Andrew K. “Kino” Kanyuch, Arthur Labons, Charles Laucher, Alex Marra, John C. Martoncik, Elmer W. McCann, Orrin E. McDowell, Ernest Mollica, Homer F. Pitts, Samuel Rain, Franklin H. Rifenburg, Allen J. Sanner, John M. Santer, Charles J. Sebeck, Charles J. Seper, George L. Speelman, John J. St. Clair, Hurley C. Stalnaker, Mike E. Stanik, John H. Steech, Joseph V. Tokish, Charles S. Van Divner, William H.R. Wright, Eugene G. Zuzak und Paul C. Zvolenski.

 

Im Welcome Center gibt es eine kleine Ausstellung zum Bergwerkswesen in Pennsylvania.

 

Ich warte noch ein paar Minuten, bis um 9 Uhr morgens das Center im Gebäude geöffnet wird. Drin erhalte ich eine Gesamtkarte des Bundesstaates, und die Dame hinterm Schalter sucht mir den genauen Weg nach Fort Wayne heraus. Zusätzlich druckt sie mir noch weiterführende Route durch Ohio, was mir später vor allem bei der Umgehung von Columbus zu Gute kommen wird. Dort steht aber auch, dasz ich noch mindestens 5 Stunden zu fahren haben werde. Ich bedanke mich vielmals und fahre weiter.

 

Eine halbe Stunde später habe ich Washington, Pennsylvania, erreicht, etwa 25 Meilen südwestlich von Pittsburgh, das ich auf der Interstate in groszem Bogen umfahre. Die I-79 endet hier, und ich fahre auf der I-70 South weiter, die aber weniger nach Süden, als vielmehr nach Westen führt. Weitere 20 Minuten später bin ich schon wieder in West Virginia, das hier einen seltsamen Zipfel nach Norden aufweist.  Im Westen bildet der Ohio River die Grenze zwischen West Virginia und eben Ohio; hier im Osten geht die Grenze zu Pennsylvanias Grenze senkrecht nach Norden bis zum Eriesee ein Stück weit östlich von Cleveland, Ohio, [dort bin ich am Sonntagnachmittag] und weiter bis zur kanadischen Grenze, die mitten durch den See verläuft).

 

Das Stück West Virginia ist wirklich nur 15 Meilen breit. Ein paar Hügel noch, dann erreiche ich bei Elm Grove das Tal des Ohio-River. Hier teilt sich die Interstate schon wieder. Während die I-70 ein Stück nach Norden und dann mitten durch Wheeling am Ufer des Ohio führt, folge ich einer Art Umleitung, I-470, die Wheeling im Süden umgeht und den Ohio über die Vietnam Veterans Memorial Bridge überquert und in den Hügeln jenseits des Flusses ein gutes Stück weiter wieder auf die I-70 trifft.

 

Damit habe ich den eher szenischen Teil meiner Fahrt hinter mir gelassen, denn Ohio ist grösztenteils brettflach - wie ich mich noch gut von unserer Tour von 1997 erinnere, bei der wir genau hier, aber in der Gegenrichtung, entlanggefahren sind.

 

Auch das Welcome Center nahe Belmont macht lange nicht so viel her wie das in Pennsylvania. Es heiszt auch nicht so, sondern Ohio Westbound I70 Rest Area, und besteht aus einem nicht besetzten Pavillon mit ein paar Broschüren, von denen eine immerhin Landkartenblätter enthält, die zur Orientierung gerade ausreichen. An einem Automaten ziehe ich mir einen durchaus trinkbaren Kaffee und eine Tüte Brezeln, um das lange letzte Stück in Angriff zu nehmen. Den Kaffee trinke ich an einer steinernen Bank-Tisch-Garnitur unter hohen Bäumen, die angenehmen Schatten spenden.

 

Die nächste anderthalbe Stunde geht gut 100 Meilen stur geradeaus auf Columbus, Ohio, zu. Um die Zeit zu überbrücken, stöpsele ich mein Handy über den USB-Anschlusz in das „Radio“ des Autos ein. Hm, hätte ich vielleicht besser nicht so genannt, denn als ich mein Hörbuch starte, funktioniert das auch, aber nur ein paar Minuten, dann hört der Erzähler auf zu erzählen, und ich lande in einem amerikanischen Sender, wo sich zwei vermutlich Männer mit einer vermutlich Frau unterhalten, kabbeln, verarschen, ich weisz nicht, ich verstehe nur jedes fünfte Wort und dazwischen viel Gelächter und seltsame Geräusche. Nee, das will ich nicht, ich will wissen, wie Petersons Roman weitergeht. Kabel raus und wieder rein. Gleiches Spiel. Handy runter- und wieder hochgefahren, Kabel rein, erst Roman, dann good feeling. Exkrement. Dann bricht die Verbindung zwischen Kommunikationssystem und Handy völlig zusammen und läszt sich nicht mehr reaktivieren. Das Radio geht noch, aber sonst nix mehr. Wenn ich Glück habe, ist nur das Kabel kaputt, dann kann ich am Sonntag mit Annes Kabel nochmal probieren. Ich habe kein Glück, weisz dann nur, dasz es nicht am Kabel hängt. Noch mehr Exkremente. Mit Grausen denke ich an die vielen öden Stunden auf der Autobahn, die mir bevorstehen. Mist. Fünf Bücher aufm Handy, und das kann ich nicht so laut aufdrehen, dasz ich übers Fahr- und Klimaanlagengeräusch mehr als Fetzen verstehe. Vor zehn Jahren hatte mir im Barnes + Nobles einen Jack-Reacher in Englisch gekauft und ohne Probleme abgespielt, CD nach CD. Aber heute gibt’s keinen CD-Schlitz mehr, da geht alles nur noch per Kabel oder Bluetooth oder gar nicht. Hier ist’s das letztere, denn Bluetooth funktioniert auch nicht. Gottseidank hat die Mühle sonst keine Macken - nun ja, abgesehen dasz ich die Tür nicht absperren kann. Pfff.

 

Kurz vor Columbus halte ich nochmal an, um meine Anweisungen für die Umgehung der groszen Stadt zu studieren, und biege dann - gefühlt schon lange in der Stadt, denn die letzten 10 Minuten gabs links und rechts nur Häuser und andere Gebäude zu sehen - nach Norden auf die I-270 ab, die in einem Riesenbogen von etlichen zig-Meilen-Radius nördlich um Columbus herumführt, erst ein gutes Stück nach Norden und dann wieder nach Westen. Aber bevor sie sich wieder nach Süden wendet, verlasse ich sie auf die US-33, die mich schräg nach links oben, sprich: Nordwesten, direkt nach Fort Wayne führen wird. Nee, nicht „wird“, sondern „sollte“. Sie tut es nämlich nicht.

 

Denn jetzt wird es Zeit, dasz dieses Geschreibsel seinen Namen verdient. Die ersten 60 Kilometer geht alles gut. Ich hangele mich von Ort zu Ort, Ampel zu Ampel, auch wieder eine gute Stunde lang. Zwar ist der Verkehr mäszig, aber das ständige Gasgeben und Bremsen in jedem Ort, an jeder Ampel, usw. braucht seine Zeit. Als ich das kleine Städtchen Huntsville erreiche, geht irgend etwas schief. Aber bis ich merke, dasz ich nicht mehr auf der 33 bin, vergeht einige Zeit. Ab und an konsultiere ich meine zugegebenermaszen lausige Karte, aber das nutzt mir nichts, weil ich nicht weisz, wo ich überhaupt bin, und die kleineren Orte natürlich nicht eingetragen sind. Auf dem Plan vom Welcome Center in Pennsylvania ist der Ort Lima eingetragen, aber der liegt nördlich der 33, auf der ich immer noch meine zu sein. Bin ich natürlich nicht, im Moment fahre ich durch das ländliche Ohio mit vielen kleinen Farmen, einzelnen Häusern und Örtchen, die nicht gröszer sind als drei Häuser und ein Hund -okay, vielleicht zwei Hunde. Rechts müszte jetzt ein See kommen, kommt aber nicht (weil er ein paar Meilen weiter linkerhand liegt, aber von meiner Position nicht zu sehen ist). An einer Straszenkreuzung steht links zur 33, aber dort geht’s doch nach Süden, das ist doch ganz die falsche Richtung. Es ist wohl die richtige Richtung, denn wo ich meine, es wäre Norden, ist sehr wahrscheinlich Westen, garantiert nicht Süden und vermutlich auch nicht Osten, aber sicher bin ich mir nicht. Ich fahre nach rechts, aber dort ist kein Schild nach nirgendwo, also drehe ich doch Richtung 33, fühle mich aber nicht wohl und kehre wieder um. Ich habe keine Ahnung, wo ich zur Zeit bin.

 

Selbst vier Wochen später, als ich diese Zeilen eintippe - längst wieder in Deutschland und jetzt bestens mit google-maps bewaffnet - kann ich meine Odyssee durch Ohio ab Huntsville nicht mehr nachvollziehen. Ich komme mir ein biszchen vor wie Reinhard May in seinem Lied „Mann aus Alemania“, der sich ein Kamel mietet und in der Wüste verirrt: „Sah nicht mal mehr Amerikaner, sondern nur noch Fata Morgana“. Irgendwann komme ich- vermutlich auf der 235, beschwören will ich’s nicht - durch ein kleines Nest namens Alger (837 Einwohner) und ein Stück dahinter in einen Ort mit noch kürzerem Namen: Ada. Und staune nicht schlecht, als die groszen Gebäude linkerhand auf die „Ohio Northern University“ hinweisen. Verflucht noch mal, wieso ist dieser Ort nicht auf meiner Karte - nun, er ist da, aber nicht dort, wo ich ihn suche. So geht das jetzt nicht weiter, irgendwer hier wird schon wissen, wo wir sind.

Rechterhand ist ein Gemischtwarenladen namens „Carry Out“, dort werde ich jetzt fragen. Eine Frau will gerade in das Geschäft, als ich anhalte und in die Hitze des Sommernachmittags aussteige. Ob sie mir helfen kann, frage ich und schwenke meine rudimentäre Karte. Oder ob sie mir wenigstens sagen kann, wo auf der Karte ich zur Zeit bin. Sie schaut mich an, und erst später frage ich mich, was sie sich ob meiner Kluft gedacht haben mag.

 

Energisch winkt sie mich aus der Hitze ins Geschäft, ruft etwas, und schon sind zahlreiche Menschen da, um mir zu Hilfe zu kommen. Wieder zeige ich auf meine Karte und sage: „Ich finde Ada nicht auf meiner Karte. Es müszte irgendwo hier sein!“ Eine Frau zeigt auf eine Stelle, ein gutes Stück rechts von dort, wo ich mich vermutet hätte: „Ada liegt hier!“. Ich werde bleich. „Allmächtiger“, entfährt es mir, „jetzt bin ich in Ohio verlorengegangen“. Alle lachen. „Ganz einfach“, erklärt man mir, „Sie fahren einfach auf der Strasze noch ein gutes Stück geradeaus, und hinter der Stadt stoszen Sie auf die US-30, die bringt Sie in einer guten Stunde nach Fort Wayne!“

 

Gesagt, getan. Ich überquere mehrere Kreuzungen und Eisenbahngleise, und immer geht die Strasze geradeaus - durch ein groszes Wohngebiet und Felder und Wiesen, links und rechts immer wieder mal ein Haus. Schnurgeradeaus und brettflach. Als ich schon meine, so langsam müszte sie doch mal kommen, kommt der Highway in Sicht. Ich fahre nicht über eine Brücke darüber und über eine Rampe hinunter. Der Highway ist keine Autobahn oder eine Schnellstrasze, sondern „nur“ eine Hauptstrasze mit jeweils zwei Fahrspuren in jeder Fahrtrichtung. Bis nach Fort Wayne, Indiana, sind es 77 Meilen; die Fahrt wird etwa 75 Minuten dauern.

 

Wieder zockele ich - jetzt mit viel weniger Druck, denn das Ziel liegt in erreichbarer Nähe - Richtung Westen. Die Landstraszen haben zwar viel mehr Flair, aber auf dem Highway geht’s einfach viel schneller voran. Im Auszenbereich der Kleinstadt Van Wert (11.000 Einwohner) sehe ich das Wort „Walmart Supercenter“ auf einem groszen Schild - vielleicht kann ich dort ein Kabel für mein sonst wertloses Navi finden. Der Walmart ist Teil eines gröszeren Gebildes in einer amerikanischen Gewerbemall. Da stehen zahlreiche Geschäfte nebeneinander, oft hinter einer gleichförmigen Fassade verborgen, davor ein meist riesiger Parkplatz, auf dem locker ein paar hundert Autos Platz haben. Ich betrete das Geschäft durch einen der drei Eingänge und steuere auf die Elektroabteilung zu. Eine Beschäftigte fragt mich, ob sie mir helfen kann. Ich erkläre mein Problem, aber sie weisz keinen Rat. Sie fragt einen jungen Mann, der schnell den Kopf schüttelt. „Nein“, sagt er und tippt weiter auf seiner Tastatur herum, „haben wir nicht.“ Aber sie gibt nicht auf: „Dann werden wir Mary fragen!“ Auf ihren Ruf kommt Mary herbei und entnimmt mehrere Kabel aus einem verschlossenen Glasschrank, um sie auszuprobieren. Nichts paszt. Doch Mary ist mit ihrer Weisheit noch nicht am Ende. Wenn wir’s nicht haben, vielleicht jemand anders. Sie telefoniert, spricht ein paar Minuten mit jemand, dann leuchtet ihr Gesicht auf. „Es gibt ein Kabel, aber nicht hier“. Sie gibt mir genaue Anweisungen, wohin ich fahren musz, und malt sogar eine kleine Skizze. Sie hat Arbeit mit der Anfrage, wird nichts daran verdienen, aber der Kunde ist König. Schlieszlich siegt aber doch die Neugier, und sie fragt mich nicht, woher ich komme - das hat sie am Dialekt erraten, aber wohin ich unterwegs sei. Als ich ihr von der IGGP Konferenz in Fort Wayne erzähle, erfahre ich, dasz ihre Vorfahren wohl auch aus Germany stammen und sie selbst auch Genealogie betreibt. Ich weisz meinen Dank auszudrücken. Ich biete ihr kein Trinkgeld an, weil ich vermute, dasz sie es nicht annehmen darf. Sie kriegt ein Buch von mir.

 

Der Grund, warum ich überhaupt unterwegs bin, ist die diesjährige Konferenz der IGGP in Fort Wayne, Indiana. Die International German Genealogy Partnership (IGGP) ist ein Zusammenschlusz von Gesellschaften, die sich für deutsche Genealogie interessieren und aufgrund des Zusammenschlusses „Partner“ genannt werden. Die Partnerschaft ist ein Netzwerk zum Austausch von Ideen, Kontakten, Forschungsinformationen und Ressourcen, um den Mitgliedern der Partner dabei zu helfen, ihre deutschen Vorfahren zu finden. Ziel ist es nicht, einzelnen Mitgliedern unmittelbar bei der Suche zu helfen, sondern ihnen über ihre Vereinsvorstände zu zeigen, wie sie ihre Suche am effektivsten durchführen sollten. Alle zwei Jahre findet irgendwo in der genealogisch-zivilisierten, einsprachigen, nicht deutschsprachigen Welt, sprich: USA, eine grosze Konferenz statt, zu der Interessierte aus aller Welt eingeladen werden. Dabei werden Vorträge aller Art gehalten, die sich mit dem Thema „deutsche Genealogie“ beschäftigen, die meisten in Englisch, ein paar auch in Deutsch. Dieses Jahr findet die Konferenz in Fort Wayne, Indiana, statt. Übermorgen wird sie beginnen.

 

Ich bin dort mit zwei englischsprachigen Vorträgen dabei, die ich vorbereitet und im März dieses Jahres per Zoom aufzeichnen liesz. Der eine heiszt „Civil Marriage in Germany in 19th Century“ und behandelt das Zivilstandswesen auf der linken Rheinseite im allgemeinen und Eheschlieszungen innerhalb dieses Systems im Speziellen. Der andere trägt den etwas sperrigen Titel „German Notarial Contracts from 19th and early 20th Centuries as a Source for Family Research“ und befaszt sich mit den Akten öffentlicher Notare im 19. und frühen 20. Jahrhundert, wobei ich meine Beispiele samt und sonders aus dem Aktenbestand „Notariat St. Wendel“ des Landesarchivs Saarbrücken entnommen habe. Den Vortrag über die zivile Ehe können sich die Teilnehmer an der Konferenz nur virtuell, d.h. als Aufzeichnung anschauen, den über die Notariatsakten werde ich am kommenden Sonntag um 9 Uhr in Fort Wayne persönlich halten. Danach werde ich wieder ins Auto steigen und nach Wayland im Steuben Country in upstate New York fahren, wo seit Samstagabend meine Frau Anne bei unseren Freunden Sally und Bud Higginbotham auf mich warten wird. Danach werden wir noch vierzehn Tage in Amerika bleiben, erst in Wayland, dann zwei Tage auf einer Amischen Farm, drei weitere bei unseren Freunden Alex und Joe in Rehoboth Beach, DE, und den Rest bis Samstag bei unserer Freundin Ann Zimmer in Warrenton, Virginia, bevor wir am Samstag, 24. Juni, wieder nach hause fliegen. Das ist der Plan.

 

Die beiden Vorträge habe ich nicht nur vorbereitet und aufnehmen lassen, sondern auch in englischer Sprache zu Papier gebracht, ergänzt um weitere Artikel, die in Zusammenhang mit den Vorträgen entstanden sind. Das Büchlein im Format A5 hat 131 Seiten und etliche meist farbige Abbildungen und wurde unter dem Titel „Marriage, Public Notaries, and a Family Tree“ bei Wir-machen-Druck gedruckt und ist in kleiner Auflage (20 Stück) eine knappe Woche vor meiner Abreise fertig geworden. Einige Exemplare habe ich im schweren Bücherkoffer mit dabei. Und eines dieser Exemplare schenke ich Mary vom Walmart in Van Wert, Ohio, als Dank für ihre Hilfe. Ich denke, es wird ihr gefallen haben.

 

Marys Anweisungen, besonders ihre Wegeskizze, erweisen sich als sehr nützlich, als ich quer durch Van Wert zu dem Computerladen unterwegs bin, der das gesuchte Kabel führt. An sich kann nichts schiefgehen, ich brauche nur unter der 30 hindurch zu fahren und dann immer geradeaus auf der South Washington Street durch die Stadt hindurch. Wäre da nicht im Stadtzentrum diese Riesenbaustelle. Gottlob ist die Verkehrsführung sehr gut ausgeschildert, aber es dauert wesentlich länger als die paar Minuten, die ich einer Stadt sonst für diese Strecke gebraucht habe. Deshalb befürchte ich schon, meine Abbiegung nach rechts verpaszt zu haben, als kurz nach einem in der Anleitung genannten Riesengebäudekomplex auf der Linken die West Erwin Road nach rechts abgeht. Ein paar Querstraszen weiter und jenseits des Bahnübergangs liegt inmitten eines Mini-Mall-Gebäudes das Computerfachgeschäft „CNT Computers“, und dort erstehe ich im Nullkommanix ein funktionierendes Kabel für mein Navi. Pfff, war’n langer Weg.

 

Auf dem Rückweg durch die Stadt wird das TomTom natürlich direkt ausprobiert. Dummerweise liegt der Saugknopfdingens, mit dem ich das Navi irgendwo befestigen könnte, irgendwo im Koffer, also drapiere ich es auf dem Beifahrersitz in einer Falte meines Dreispitzes, auf der einen Seite gehalten durch eine halbleere Wasserflasche, auf der anderen durch den kleinen Teddybär. Eine sehr professionelle und effiziente Lösung, wie ich finde. Die Schwerkraft und die Massenträgheit sind nicht meiner Meinung, weshalb das Navi bei jeder Erschütterung umkippt und natürlich so fällt, dasz auf dem nicht wirklich groszen Display durch die Sonneneinstrahlung nicht wirklich viel zu erkennen ist. Nervig, aber jetzt gerade nicht zu erkennen. Dafür erzählt es mir in Deutsch, wie ich fahren soll.

 

Nun ja, so halbwegs. Denn hier kommen die gut 10 oder 15 Jahre, die das Navi bzw. dieses Konzept schon auf dem Buckel hat, schnell und negativ zum Tragen. Während google-maps mir an einer Abbiegung sagt, dasz ich rechts auf die Hintertupfingen-Strasze abbiege und mich dann auf der linken Spur halte, um Richtung St. Nirgendwo zu fahren, ist das Tomtom mit „biegen Sie rechts ab, dann halten Sie sich links“ zufrieden, nun, ich eigentlich nicht. Aber das Tomtom bezieht seine Daten von irgendwelchen Satelliten hoch am Himmel, die auch da sind, wo es keine Masten für das Internet und damit für google-maps gibt. Sagen wir so: das Tomtom ist gut zu handhaben, wenn ein Beifahrer es liest und Anweisungen gibt. Leider sitzt da kein Beifahrer, und ich musz damit leben, was ich habe. Ich finde trotzdem durch Van Wert hindurch zurück auf die 30.

 

Dort winke ich Mary und ihrem Walmart Supercenter noch einmal dankend zu und trete meine letzte Etappe an. 35 Meilen noch, eine gute Dreiviertelstunde. Ich bin fast da. 20 Minuten später überquere ich die Grenze nach Indiana und erreiche noch mal 20 Minuten später die Auszenbezirke von Fort Wayne. Ich habe mir die Innenstadt vorher über google maps genau angeschaut und weisz, wo ich wann ungefähr abbiegen musz. Ist seltsam - ich habe mir ein ungefähres Bild gedanklich erarbeitet, wie es hier ungefähr aussehen wird. Das entspricht in etwa auch der Realität, aber die ist trotzdem ganz anderes. Der Teil, mit dem ich es im Endeffekt am meisten zu tun haben werde, die Gegend um das Kongresszentrum, wo auch die Allen County Library direkt um die Ecke liegt, wird von zwei vier Spuren breiten Einbahnstraszen dominiert, die alle hundert Meter von Querstraszen durchbrochen werden, eine riesige Fläche von Quadraten und Rechtecken.

 

Die Einbahnstrasze, auf der ich hereinkomme, ist der West Washington Boulevard, sein gegenläufiges Pendant der West Jefferson Boulevard. Es ist nützlich, von den Richtungen beider Straszen zu wissen, vor allem, wenn man sich verfahren hat. Denn dann kommts drauf an, in welche Richtung man abbiegen kann. Die Blocks zwischen beiden Boulevards sind von Gebäuden beidseitig der Straszenränder begrenzt, zwischen denen nochmals ein Fahrweg verläuft - auszer da, wo das Kongreszzentrum steht. Das ist ein mächtiger Block, der den gesamten Raum zwischen den Boulevards einnimmt.

 

Da vorn steht der hohe Turm, den ich von meinen Orientierungsstudien kenne, eigentlich kein Turm, sondern ein dominierend hohes Gebäude, gegenüber ist das Hilton mit dem anschlieszenden Fort Wayne Convention Center (dort spielt sich die Konferenz ab). Dann kommt eine Querstrasze (Webster Street). Links folgt eine grosze Parkfläche und rechterhand liegt die Bibliothek. Jetzt aufpassen, noch nicht die nächste Querstrasze links rein, sondern die übernächste. Rechts der Parkplatz und dahinter das imposante Gebäude der „Trinity English Lutheran Church“, links das hiesige Zentrum der Heilsarmee. Hier musz ich links abbiegen auf die Querstrasze (Fairfield Avenue) und direkt nach ein paar Metern nach rechts in den Fahrweg zwischen den Häusern. Und dort direkt nochmal rechts auf den kleinen freien Platz. Hinter mir liegt das Starbucks, wo es sicher morgens einen guten Kaffee gibt (obwohl ich dort nie hingegangen bin, weil auch andere Familien hübsche Töchter haben, sprich: andere Lokalitäten guten Kaffee), unmittelbar vor mir die Rückfront des Sion Bass House. Hier werde ich bis am Sonntagmorgen wohnen.

 

Der Eigentümer hat mir genaue Anweisungen gegeben, was ich wo machen soll. Aber als ich jetzt vor bzw. hinter dem Haus stehe --- durch die violette Tür soll ich rein, dazu habe ich einen Türcode erhalten. Da ist die Tür, aber der Code funktioniert nicht. Mir entfleucht ein müdes „Exkrement“. Hinter einer Wand unter einem Carport höre ich etwas rumoren. Dort lädt ein Mann in kurzen Hosen und freiem Oberkörper (nee, so würde ich nicht rumlaufen) Sachen aus einem Auto aus. Als ich ihn anspreche, weisz er sofort, was los ist, und Rat. Auf seinem Handy ruft er jemanden an und sagt dann zu mir: „Kommt gleich jemand.“

 

Schon schlurft eine Dame unbestimmbaren Alters, nicht schlank, eher dünn und ausgezehrt, wie es extrem langer Nikotingenusz mit sich bringen mag, auf mich zu. Wie alle Amerikaner, die ich in den USA je traf, sehr höflich und zuvorkommend, was mich ob meiner ersten Einschätzung wenn auch nur gedanklicher Art immer ein wenig beschämt.

 

„Bitte, kommen Sie mit“, sagt sie zu mir und gibt an der violetten Tür einen Code ein. Wir betreten ein Zimmer, ausgestattet mit einem groszen Bett, Stühlen und einem kleinen Tisch. „Nein“, sagt sie, „dasz ist nicht der Eingang, das ist mein Zimmer.“ Und führt mich auf der anderen Seite wieder hinaus in einen gröszeren Raum, von dem auf drei Seiten Türen abgehen, auf denen Personennamen stehen.

 

Später finde ich heraus, dasz der Eigentümer des Anwesens - Sam - jedem seiner vermieteten Zimmer den Namen einer Person gab, die mal hier im Haus wohnte. Aus dem Raum geht’s in einen kleinen Flur und dann eine extrem steile Treppe hoch in den ersten Stock. Auf einem Tastenfeld musz ich den Zimmercode eingeben, den mir Sam tags zuvor online zugeschickt hat. Die Tür öffnet sich zu einem groszen Raum, leicht abgedunkelt durch schwere Vorhänge vor den Fenstern. Ich stelle meinen Koffer ab und folge meiner Begleiterin die Treppe hinunter zur Vordertür, wo sie mir erklärt, wie die Vordertür - auch mittels Code - geöffnet und geschlossen wird. War gut zu verstehen, ich habs nachher ein paarmal ausprobiert. Das System ist nicht schlecht. Zwei vierstellige Codes, einer für die Haustür, einer für die Zimmertür. Keine Schlüssel. Sam kriege ich nie zu Gesicht und die Frau nur noch einmal, dann in Begleitung eines kleinen Kindes, vermutlich ihrer Tochter.

 

Ich habe das Sion Bass House gewählt, als ich mich nach Übernachtungsmöglichkeiten in Fort Wayne umsah. Das Hilton ist das offizielle Tagungshotel, kostet aber auch entsprechend. Das Sion Bass House liegt 5 Gehminuten vom Center und der Bibliothek entfernt und kostet pro Tag ein gutes Stück weniger, kumuliert auf die vier Übernachtungen (Mittwoch bis Sonntag) macht das über 100 Dollar aus, eher mehr. Dafür gibt es hier kein Frühstück, aber das kostet im Hilton meines Wissens auch extra.

 

Ein Stele vor der Haustür erzählt vom Haus von Sion Bass, einem Helden des Bürgerkriegs:

 

„John Grimes errichtete 1842 das Haus auf diesem Grundstück und verkaufte es am 13. März 1854 an Sion S. Bass und seine Frau Eliza. Sion Bass kam 1848 aus Salem, Kentucky, nach Fort Wayne und arbeitete für das Pelzhandelsunternehmen William Ewing. 1853 schloss sich ihm sein jüngerer Bruder John an. Sie gründeten ein Eisenwerk, das sie an die Eisenbahn verkauften, und später eine zweite Eisen- und Maschinenfabrik. Dieses Unternehmen wurde unter der Leitung von John Bass zur groszen Bass Foundry, die bis nach der Jahrhundertwende die Industrie in Fort Wayne dominierte.

 

Als der amerikanische Bürgerkrieg ausbrach, meldete sich Sion Bass freiwillig und half bei der Organisation des 30. Freiwilligenregiments von Indiana – „The Bloody Thirtieth“ [„Das verdammte 30th“]. Bass wurde von den Männern zum Oberst und kommandierenden Offizier gewählt. Im ersten Einsatz des Regiments, in der Schlacht von Shiloh in Tennessee im April 1862, führte Sion Bass seine Männer am blutigsten zweiten Kampftag in mehreren Angriffen an. Er wurde schwer verwundet und starb einige Tage später in einem Lazarett. Sein Leichnam wurde nach Fort Wayne zurückgebracht, wo ein Staatsbegräbnis zu Ehren des ersten gefallenen Helden der Stadt stattfand. Seine Witwe lebte bis zu ihrem Tod im Jahr 1878 im Haus.“

 

Toller Text, wenn auch hinten ein kleiner Fehler auftaucht. Denn seine Witwe heiratete ein paar Jahre später wieder und starb 1914 in Iowa. Die Frau, die hier im Haus in den 1870ern starb, war seine Mutter, aber nicht 1878, sondern 1874.

 

Hab ich schon geschrieben, dasz mein Zimmer Sions Namen trägt? Ich steige die Treppe hinunter und hole alles, was ich glaube zu brauchen, aus dem Auto (der kleine Koffer bleibt natürlich drin), bringe es nach oben und richte mich gemütlich ein.

 

Das Zimmer ist wirklich toll und wird von einem riesigen Bett dominiert, dessen vier Ecken von Holzsäulen getragen werden, die mit einem Metallgeflecht über dem Bett verbunden sind. Drei hohe Fenster lassen Licht hinein, eins zur Seite, zwei nach vorne zur Strasze, die schweren Vorhänge dunkeln den Raum aber nicht völlig ab und wirklich schalldicht sind sie auch nicht. Direkt linkerhand steht in einem kleinen Raum die Toilette, direkt gegenüber in einer Nische ein Kühlschrank. Davor - zur Straszenseite hin - befindet sich in einem kleinen Nebenraum ohne Tür ein groszzügig, denn keinen Platz verschenkendes Badezimmer mit Waschbecken und einer Duschwanne, deren schwerer Vorhang zweigeteilt ist - auszen aus Stoff über den Rand der Badewanne hängend, ein weiszer wasserabweisender Kunststoffvorhang innen, so dasz kein Wasser nach auszen dringen kann. Das Wasser ist schnell heisz, was ich auch gleich ausprobiere und mir den Staub und Schweisz des langen Tages vom Leib spüle.

 

Es ist jetzt kurz nach sechs Uhr abends, zuhause also schon kurz nach 24 Uhr. Ich bin etwas müde, aber die Dusche hat mich wieder munter gemacht. Ich will mal nachschauen, ob schon jemand im Konferenzzentrum ist. Also ziehe ich ein neues Hemd an (das andere hat eben mitgeduscht und hängt jetzt zum Trocknen im Bad) und schlendere nach drauszen. Der Riegel der Haustür wird von innen geöffnet und von auszen durch Handauflegen wieder geschlossen. Will ich hinein, lege ich die Hand auf und gebe dann meinen Code ein. Innen musz ich dann allerdings händig wieder den Riegel schlieszen. Hört sich kompliziert an, ist aber einfach zu lernen und sehr effizient.

 

Am Straszenrand wende ich mich nach rechts, überquere die Seitenstrasze und spaziere nach Osten. Rechts vor mir zeigt ein Wegweiser auf ein groszes langgestrecktes graues Gebäude, das ist die Bibliothek, die selbst jetzt - es geht auf halb sieben - noch geöffnet hat. Ich betrete das Gebäude, und die Wärme auszen wird durch eine erst unangenehme Kühle drinnen verdrängt, die aber nach ein Minuten durchaus angenehm wird. Ich nicke dem Pförtner zu, der grinsend meinen Grusz erwidert, und betrachte den riesigen Globus im Foyer, der sich leise brummend unaufhörlich um sich selber dreht. Fasziniert sehe ich zu, wie er von Europa nach Amerika sich dreht. Mein Freund, Du schaffst in nur einer Minute, wofür ich drei Tage brauchte.

 

Die Bibliothek werde ich mir morgen noch genauer anschauen, also gehe ich über die breite Strasze, über die alle paar Minuten die wilde Jagd braust, wenn die Ampeln auf vier Fahrbahnen auf grün schaltet und die Autos und Motorräder lospreschen, als gelte es einen Preis zu gewinnen. Dann Gnade dem, der sich noch auf der Fahrbahn aufhält.

 

Gegenüber suche ich mir meinen Eingang ins Konferenzzentrum, das aus einem breiten haushohen, mit Glasfenstern begrenzten Foyer besteht, an den sich - von mir aus - links die groszen Konferenzräume befinden. Ein schmalerer, aber gleich hoher Gang führt rechtwinklig abbiegend nach hinten. Dort erreicht man zusätzliche Räume hinter Konferenzräumen und auch die etwas kleineren, wie der, an dem ich am Sonntag meinen Vortrag halte. Aber auch in die kleineren gehen 100 Leute bequem hinein.

 

Im Zentrum ist niemand zu sehen, dessen Konterfei ich auch nur ansatzweise von den Zoom-Konferenzen kenne. Einer Aufsichtsperson sage ich, dasz ich die Genealogen suche. Sie versteht sofort und schickt mich hier herum und dort entlang und da hinein. Wow, besser als mein Navi. Ein Riesenraum, bestückt mit Tischen, vorn eine Bühne. Überall werkeln Leute rum; ich wandere zwischendurch, niemand sieht mich, niemand fragt, was ich hier will. Sage ich „hallo“, grüszt man zurück, und einen Moment später bin ich für sie schon nicht mehr da. Aus einer Seitentür kommen Leute, die einen zusätzlichen Tisch hereintragen. Ich schlendere durch die Tür und bin „backstage“, hinter der Bühne. Auch dort hinterfragt niemand mein Hiersein. Als ich jemanden frage, ob das für die IGGP-Konferenz sei, erhalte ich einen Blick blanken Unverständnisses. Nein, das ist für … fragen Sie nicht, ich verstehe es nicht. Hier ist morgen, Donnerstagabend, ein Festessen. Hm, hier bin ich wohl nicht richtig. Ich verlasse den Saal und das Gebäude. Schade, hätte mich gern mit jemand unterhalten. Damals in London bei der Rootstech 2019 hatten wir für den ersten Abend ein Treffen von APG-Mitgliedern organisiert; das war ein lustiger Abend in einem britischen Pub mit interessantem britischen Essen gewesen. Und auch an den folgenden Abenden saszen wir immer zusammen und haben uns gut unterhalten. Das vermisse ich jetzt. Denn der Grund für diese Reise war weniger die Konferenz als der Kontakt zu den Teilnehmern, mit denen ich über unser Lieblingsthema, die Genealogie, plaudern kann.

 

Vor mir liegt der West Jefferson Boulevard mit seinen vier Spuren und dem Wagenrennen in die Gegenrichtung. Zwei Frauen mittleren Alters kommen auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig in Fahrtrichtung daher, offensichtlich auf der Suche nach irgendetwas. Sie bleiben vor einem Gebäude stehen, dort steht „Connor’s kitchen and bar“. Nun, in eine Bar will ich ja nicht, ich hab ja Hunger. Das „kitchen“ steht zwar für „Küche“, aber … hm, ich bin nicht nur in einer groszen Stadt in einem fremden Land verloren, sondern auch noch unentschlossen. Dummer alter Mann.

Die beiden Frauen haben dieses Problem nicht, sie steigen die Stufen hoch und treten ein. Nun ja, dann kann das so schlimm nicht sein. Ich folge ihnen. Sie nehmen an einem Tisch Platz, ich setze mich an die Bar. Die … hm, nein, „Kellnerin“ paszt hier wirklich nicht, aber „Bardame“ ist ja auch doof. Die Frau hinterm Tresen, relativ klein, schlank, um die 30, wuselt in ihrem Bereich herum, mixt Getränke zusammen, nimmt Bestellungen auf, serviert Essen, räumt schmutziges Geschirr ab, und macht das auf einige ruhige und überaus geschäftsmäszige Art, dasz es Spasz macht, ihr beim Arbeiten zuzusehen. Ich liebe es, Menschen zu betrachten, die mit Präzision und Fachkenntnis agieren. Da paszt alles zusammen, jeder Handgriff sitzt, da merkt man den Meister, die Meisterin in ihrem ganz speziellen Metier. Sie trägt dabei eine mehr oder minder neutrale Miene, nicht lächelnd, nicht traurig, sondern ernst und konzentriert bei der Sache. Sie legt mir die Speisekarte hin, nimmt meine Bestellung auf - keine Ahnung mehr, was ich da esse, aber es ist köstlich, wenn auch das wheatbeer nicht unbedingt das Weizenbier ist, was ich kenne. Aber es ist kühl und durchaus süffig und gibt mir mit dem Essen die notwendige Fülle, um mich danach nach meinem Bett zu sehnen.

Während des Essens unterhalte ich mich mit meinen Tisch-, nein, Thekennachbarn. Einer ist für das die Zillow Group in den Staaten unterwegs. Am besten schlagen Sie den Begriff in wikipedia nach. Hat was mit Immobilien zu tun. Steve - so heiszt der Mann - erklärt mir alles die Länge und die Breite, und im Moment des Erzählens verstehe ich auch ungefähr, was er meint, aber danach ist alles auch genauso schnell wieder weg. Oh, und er hat natürlich deutsche Vorfahren, auch wenn er nicht viel über sie weisz und auch keine Zeit hat, sich jetzt darum zu kümmern. Vielleicht später einmal. Das war eine sehr nette Unterhaltung, und ich wünsche ihm viel Glück bei seinen Geschäften.

 

Ich bestelle einen Espresso und mache die bittere Erfahrung, dasz er in Amerika wohl gewöhnlich ohne Zucker serviert wird, als ein Mann auf mich zutritt und höflich nach meinem Outfit fragt und ob hier irgendwo ein Reenactment stattfinden würde, vielleicht für einen Film. Da musz ich lachen und erzähle ihm erstmal den Spruch, den ich mir über Tag zurechtgelegt habe, dasz ich ein Bote sei auf dem Weg zu George Washington, um ihm zu sagen, dasz Cornwallis bei Yorktown kapituliert habe. In Deutschland käme ich mit dem Spruch nicht weit, denn hier gibt es relativ wenige Leute, die eine ungefähre Ahnung vom amerikanischen Unabhängigkeitskrieg haben. Georg Washington, den Oberkommandierenden der rebellischen Kolonisten, kennen hierzulande schon mehr, aber mit Cornwallis, einen der beiden Oberkommandierenden der britischen Armee, wird kaum einer was anfangen können, es sei denn vielleicht, er erinnert sich an die Rolle von Tom Wilkinson in Roland Emmerichs „Der Patriot“ aus dem Jahre 2000. Aber den Amerikanern, deren beiden groszen Kriege auf eigenem Territorium, des Unabhängigkeitskrieges und 70 Jahre später des Bürgerkrieges zu den am besten und detailreichsten recherchierten und dokumentierten unserer Zeit gehören, sind die Namen Washington und Cornwallis gut vertraut, weshalb der Spruch immer mindestens ein Lächeln bringt. Übermorgen wird mich jemand anders fragen, ob ich Paul Revere (sprich: Riwier) sei - Zahnarzt, Propagandist und ein weiterer Freiheitskämpfer der amerikanischen Revolution -, und ich werde antworten: „nur wenn er aus Germany kommt!“ Und die ganze Strasze wird in Gelächter ausbrechen.

 

Der Mann ist zufrieden mit der Antwort, geht an seinen Tisch zurück mit seinen Freunden, die schon erwartungsvoll herüberschauen. Ein paar Erklärungen, alle lachen und prosten mir aus der Ferne zu. Mittlerweile sind die beiden Frauen, die vor mir hereinkamen, mit dem Essen fertig und im Aufbruch begriffen. Schnell gehe ich hin und gestehe ihnen, dasz ich ihnen gefolgt bin, weil ich unsicher war, ob dieses Etablissement zum Abendessen geeignet wäre. Ohne ihr Beispiel wäre ich wohl nicht hineingegangen, aber es war gut, dasz ich es tat, das Essen war echt lecker. Sie schauen mich verblüfft an ob meiner Offenbarung, dann lachen sie. Wie ich vermutet habe, werden sie an der IGGP-Konferenz teilnehmen. Und eine von ihnen werde ich morgen früh gleich bei der ersten Veranstaltung wiedertreffen.

 

Für mich wird es auch Zeit - musz morgen früh früh raus, um um halb neun zu dieser Veranstaltung zu kommen (Leadership Day). Jetzt ist es kurz nach neun Uhr abends, also kurz nach drei Uhr morgens in Deutschland. Auf dem Weg zu meiner Unterkunft kaufe ich mir in einem Shop bei einer Tankstelle eine Plastikkanne mit Trinkwasser, so um die 2 Liter. Wie erwartet schmeckt es nach nichts, aber das musz es ja auch nicht. In meinem Zimmer bin ich nicht mehr lange auf. Ich bereite alles für morgen vor, schaue noch schnell meine Emails nach und bin auch schon weg.

 

Donnerstag.

Bis ich mich zeitlich akklimatisiert habe, werden noch ein paar Tage vergehen. Aber da gestern ein langer, recht anstrengender Tag war und ich entsprechend relativ rechtschaffen müde, habe ich gut geschlafen und bin erst um fünf Uhr zum ersten Mal wach geworden, hab mich noch eine Zeitlang hin- und hergewälzt und bin dann gegen sechs Uhr aufgestanden.

 

Heute gibt es noch zwei substanzielle Probleme zu lösen - zunächst musz mir was zum Frühstück suchen und dann brauche ich noch einen Adapter, um meine elektronischen Geräte an das amerikanische Stromnetz anschlieszen zu können, denn wo unser Stecker nur zwei Anschlüsse hat, verwendet der amerikanische deren drei.

 

Letzteres Problem werde ich heute nachmittag lösen, in dem ich mit dem Auto noch ein paar Kilometer weiter in die Auszenbezirke fahre, in denen sich die obligatorischen Malls befinden. Diese potthässlichen, oft riesigen Einkaufszentren gibt es vor oder hinter jeder etwas gröszeren Stadt. Das sind riesige, wirklich riesige Parkplätze, die an Gebäude grenzen, deren Fassaden ein wenig aus Tausend und einer Nacht stammen könnten, allerdings eher im Stile Walt Disneys, mit einheitlich kackbraunen Wänden, ein Geschäft neben dem anderen, nicht wirklich schön, möglicherweise wenigstens praktisch.

Heute mittag wird es wieder ein Walmart sein, wo ich einen Angestellten fragen werde, der mir nach kurzem Überlegen die Koordinaten von Gang und Reihe nennen wird. Die hat er im Kopf, bei so 'nem groszen Haus und der Menge Waren nicht schlecht.

 

Die Frage 1 ist schon ein anderes Kaliber - ich google nach Frühstücksmöglichkeiten in der Umgebung meiner Unterkunft und finde eine Bäckerei ein paar Blocks nordöstlich (rechts oberhalb). Drauszen ist die Sonne schon aufgegangen und steht irgendwo östlich zwischen den Hochhäusern, als ich die Strasze überquere. Die Fuszgängerampeln an den Kreuzungen sind über kreuz geschaltet, so dasz immer die schräg gegenüberliegenden Ampeln gleichzeitig rot oder grün sind. Die Ampeln werden grün und zählen dann die Sekunden runter von 10 auf 0. Praktisch. Die Karawane auf den Straszen ist noch mäszig stark, der heranrasende Pulk noch überschaubar, die Geschwindigkeit ist die gleiche. Ich schlendere durch die Straszen und betrachte die teilweise sehr künstlerischen Fassaden mit unverhohlener Neugierde. Nun habe ich von Architektur nicht wirklich Ahnung, aber die vielen Kirchengebäude verschiedenartigster Religionen bergen wirklich interessante Details.

 

Die Bäckerei finde ich nicht, aber dafür Cindy’s Diner. Ein langgestreckter weiszer Kasten mit groszen Fenstern und einer grünen Dachumrandung und der markanten Haifischflosse, die den Namenszug trägt. So was kenne ich bisher nur aus Filmen. Also probiere ich das jetzt mal aus. Der Eingang ist direkt unter der Flosse. Das Innere wird von einem längs durchlaufenden Tresen dominiert, der am linken Ende L-förmig abschlieszt. Die Trennung zwischen Kunden und Crew kann nicht definitiver sein. Vor der Theke nehmen die Besucher auf drehbaren Stühlen Platz, die nur auf eine Art bewegt werden können - man kann sie drehen. Man dreht ihn um 90 Grad, setzt sich hin und dreht sich zum Tresen um. Wie aus Zauberhand steht da schon das obligatorische Glas mit Eiswasser, ohne das in Amerika keine Mahlzeit funktioniert. Hinter dem Tresen ist der Arbeitsbereich der beiden jungen Frauen, von denen die eine kocht und brät und die andere bedient. Ich nehme nahe der Tür Platz und sitze noch nicht richtig, da bin ich schon in das erste Gespräch verwickelt. Auf die Reenactor-Frage antworte ich mit der Washington-Cornwallis-Variante, und alle lachen. Vor mir erscheint neben dem Wasserglas eine Tasse Kaffee, von denen es welche in allen Variationen gibt, Hauptsache, die Grösze stimmt. Leer wird sie nie, egal, wie ich mich bemühe, denn im Diner wird sie immer nachgefüllt, bis man die Hand drüber hält. Was ich essen will, werde ich gefragt. Zwei Eier, sunny side up, ein biszchen Speck dazu (den gibt’s extra, und der ist extrem knusprig). Dazu gibt’s etwas, was ich später als Pfannkuchen identifiziere.

 

 

 

Der Gast links neben mir hat eine ovale Masse auf seinem Teller liegen - wie ne extrem flache Kartoffel - und darauf eine weisze Masse gekippt, die sieht aus wie das Innere von Mohrenköpfen. Was das sei, frage ich ihn. Er nennt einen Namen, den ich nicht verstehe, und meint, das sei sehr lecker. Oh ja, bestätigt der Nachbar rechterhand, und fügt sarkastisch hinzu: „Und ist ja soooo gesund.“ Alle lachen gutmütig.

 

Ich unterhalte mich angeregt mit dem Herrn zu meiner Linken. Er ist Rechtsanwalt und arbeitet gleich um die Ecke in einer Kanzlei. Als ich über die Konferenz erzähle, die morgen beginnen wird (für mich in weniger als einer Stunde), horcht er auf. Seine Vorfahren seien um die Wende ins 20. Jahrhundert aus Deutschland gekommen. Am nächsten Morgen zeigt er mir die Reisepässe der beiden Auswanderer, Adolph Knierim und Barbara Elisabeth Krück, die beide 1895 aus „Bebra, Kreis Rotenburg ob der Fulda, Regierungsbezirk Cassel“ nach Amerika ausgewandert sind und sich in Michigan niedergelassen haben. Ich hatte schon über diese Art Reisepässe gelesen, aber ein Original noch in Händen gehabt (und hier gleich zwei davon).

 

So, jetzt musz ich aber los, in ein paar Minuten geht das Vorprogramm zur Konferenz los. Bin gespannt, ob es diesen ganzen Aufwand wert sein wird.

Schau’n wir mal.

Historische Forschungen · Roland Geiger · Alsfassener Straße 17 · 66606 St. Wendel · Telefon: 0 68 51 / 31 66
E-Mail:  alsfassen(at)web.de  (c)2009 hfrg.de

Diese Website durchsuchen

Suchen & Finden  
erweiterte Suche