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Menschen -> Laute malen - konnte Helena Demuth lesen und schreiben?

Laute malen

 

In dem Kinofilm „Der 13te Krieger“ von John McTiernan aus dem Jahre 1999, in dem die Abenteuer eines Arabers gezeigt werden, der im 10ten Jahrhundert eine Gruppe Nordmänner begleitet, gibt es eine eindrucksvolle Szene, in der der Anführer der Wikinger den Araber fragt, ob er Laute malen kann. Ein kurzer Moment des Erstaunens ob dieser Frage, dann lächelt der Reisende und sagt: „Ja, ich kann Laute malen, und ich kann sie auch wieder aussprechen.“ Er bückt sich und malt Schriftzeichen in den Sand und spricht dazu: „Es gibt nur einen Gott, und Mohammed ist sein Prophet!“

 

Laute malen und das Gemalte wieder aussprechen - eine der Grundlagen unserer Zivilisation. „Schreiben und Lesen“ sagen wir heute dazu und messen die Menschen in zwei Kategorien: die, die das hinbekommen, und die anderen. Egal, wie bekannt oder berühmt, egal, welche Helden- oder Schurkentaten jemand vollbracht hat, wenn er lesen und schreiben kann, hat das eine andere Qualität. Vor allem, wenn er oder sie in einer Zeit lebte, in der diese Fähigkeiten noch nicht gang und gäbe waren. Bzw. wenn wir annehmen, daß sie nicht jeder kannte bzw. die meisten eher kaum eine Ahnung davon hatten.

 

Ein recht prominentes Beispiel ist Helena Demuth aus St. Wendel, die viele unter ihren Kosenamen „Lenchen (mit betontem „e“, bisweilen auch mit zusätzlichem „h“) Demuth“ kennen. Geboren wurde sie im Dezember 1820 in St. Wendel als fünftes von sieben Kindern. Ihr Vater starb früh und ließ ihre Mutter mit 5 minderjährigen Kindern allein und mittellos zurück. Das Mädchen wuchs unter schwierigen sozialen Verhältnissen auf und ging nach der Schule als Dienstmädchen nach Trier. Mit 25 Jahren schloß sie sich der Familie von Karl Marx als Haushälterin an und begleitete sie nach London ins Exil. Als Marx 1883 starb, führte sie Friedrich Engels den Haushalt, bis sie 1890 in London gestorben ist.

 

Von ihr wird behauptet, daß sie weder lesen noch schreiben konnte. Hauptgrund dafür ist, daß von ihr so gut wie keine schriftlichen Zeugnisse vorhanden sind, bis vor einem Jahr gar keine.

 

    Als Beweis für Helenas „Schreibensunerfahrenheit“, wie ein solcher „Lapsus“ in Notariatsakten jener Zeit mehr oder minder euphemistisch ausgedrückt zu werden pflegte, wurden die einzigen beiden Schriftstücke genommen, die von ihr „beschrieben“ wurden, jedenfalls soweit bis vor ein paar Jahren bekannt war  - in beiden Fällen hat sie anstelle einer Unterschrift ein „X“ gesetzt.

 

Da ist zunächst der Sterbeeintrag ihrer Halbschwester Anna gen. „Marianne“ Kreuz (1834-1862) in London.

 

Übersetzung:

 

Nr. 307

Sterbedatum                                    23. Dezember 1862

Sterbelort                                        9 Grafton Terrace

Name                                              Mary Kreuz

Geschlecht                                       weiblich

Alter                                                26 Jahre alt

Beruf                                               Hausangestellte

Todesursache                                   Herzkrankheit, Überlastung der Lunge

                                                       beglaubigt

Unterschrift der meldenden Person    X Das Zeichen von Helen Demuth,

                                                       beim Tod anwesend,

                                                       wohnhaft in 9 Grafton Terrace,

                                                       Kentish Town

ausgestellt am                                  26.12.1862

ausgefertigt durch                            Edward Hacker, Registrar

 

Quelle: General Register Office, Register of Death, District St. Pancras, Sub-District Kentish Town, Middlesex County, 1862.

 

    Wie auf der Abbildung erkennbar, wurde das ganze Dokument in der gleichen Handschrift abgefaßt; es ist die des Registrars Edward Hacker vom örtlichen Registrierbüro von St. Pancras, Unterbezirk Kentish Town. Allerdings handelt es sich nicht um den Originaleintrag, sondern seine Abschrift an das General Registers (GRO) in London, aus dessen Unterlagen diese Abbildung stammt.

 

Leider war es mir bisher nicht möglich, eine Abbildung des Originaleintrages zu erhalten, allerdings haben mir britische Genealogen glaubhaft versichert, daß die Abschriften dem Original im Wortlaut vollständig entsprechen, auch, was die Unterschrift der meldenden Person betrifft. D.h. wenn diese Person mit ihrem Namen unterzeichnet, wird in der Abschrift der Name wiederholt. Unterzeichnet mit einem Zeichen, wird dieses wiedergegeben. In diesem Fall hat Helena Demuth also tatsächlich mit einem „x“ unterzeichnet, was - wie wir gleich sehen werden - seltsam ist und möglicherweise ihrem emotionalen Zustand nach dem Tod ihrer Schwester, der einzigen verwandten und wirklich vertrauten Person im Umkreis von 500 Kilometern, geschuldet. Das werden wir nie erfahren.

 

Das zweite Schriftstück ist ihr Testament, aufgesetzt 14 Tage vor ihrem Tod 1890 in London. Auch dort unterzeichnet sie mit einem „X“:

 

Übersetzung:

 

Ich, Helen Demuth, (wohnhaft in) 122 Regents Park Road, erkläre daß dies mein letzter Wille ist. Ich vermache alle meine Gelder, Effekten und sonstiges Eigenthum an Frederick Lewis Demuth (wohnhaft in) 25 Gransden Avenue, London Lane, Hackney, E., und da ich körperlich zu schwach bin, mit meinem Namen zu unterschreiben, habe ich das Gegenwärtige mit meinem Zeichen abgezeichnet, in Gegenwart der unterzeichnenden Zeugen. So geschehen 122 Regents Park Roads am 4. Novbr 1890, nachdem Obiges mir vorgelesen und von mir vollständig verstanden worden ist.

X Helen Demuth

 

In Anwesenheit von Friedrich Engels, 122 Regents Park Road - Edward Aveling, 65 Chancery Lane - Eleanor Marx Aveling, 65 Chancery Lane

 

Eidesstattliche Versicherung der fälligen Vollstreckung zu den Akten genommen.

Am 14. November 1890 wurde das Schreiben der Verwaltung über das Vermögen des Erblassers, an welches der letzte Wille angehängt wurde, dem Universalerben Frederick Lewis Demuth übergeben.

 

Interessanterweise wurde das „X“ im Testament bislang von der Forschung so gedeutet, daß sie nicht schreiben konnte, und der Hinweis, daß sie körperlich nicht mehr imstande war zu unterschreiben, ignoriert. Dabei impliziert der Hinweis doch eigentlich, daß sie sehr wohl wußte, wie man schreibt, es aber jetzt aufgrund ihrer Körperschwäche nicht mehr hinbekommt.

 

Leider hat es sich die Forschung in der Richtung bisher immer recht leicht gemacht.

 

Der Umstand, daß Helena Demuth von ihrem 6ten bis mindestens ihrem 14ten Lebensjahr aufgrund einer allgemeinen Schulpflicht (6. bis 13. oder 14. Lebensjahr) die Mädchenschule in St. Wendel besuchte, wird gern dadurch entkräftet, daß aus den letzten Schuljahren viele Versäumnistage berichtet werden. Im November 1832 fehlt sie 4 Tage; als Grund wird angegeben, daß die Mutter im „Taglohn“ arbeite. Nach dem Tod ihres Ehemannes 1828 muß sich diese als Tagelöhnerin durchschlagen, um ihre Familie ernähren zu können. Nun ist Helenas jüngere Schwester Elisabeth geistig schwerstbehindert und bedarf dauernder Aufsicht. Davon ausgehend, daß ihre älteren Geschwister Barbara (23) und Katharina (17) selbst schon arbeiten und Peter (15) ein Jahr zuvor die Schule verlassen hat und eine Bäckerlehre macht, ist es an Helena (12), auf die behinderte Schwester aufzupassen. Im Mai 1834 fehlt sie an der 10 von 24 Schultagen, im Juni erscheint sie gar nur einen halben Tag in der Schule.

 

Aber auch andere kleine Hinweise auf Helenas Erfahrungen mit Wort und Schrift werden gern ignoriert, z.B. den in einem Brief von Friedrich Engel an Louise Kautsky in Wien vom 10. November 1888. Er reagiert darin auf die Mitteilung Louises, daß ihr Ehemann sich von ihr getrennt habe [MEW, Band 37, Seite 106.].

 

Engels schreibt u.a.: „Die Nachricht, die Ede, [Louises Ehemann] bereits Nimmie mitgeteilt hatte, traf uns alle wie ein Blitz aus heiterm Himmel. Aber als ich Ihren Brief gelesen, da stand mir erst recht der Verstand still. Sie wissen, solange ich Sie kenne, habe ich Sie stets hoch und höher geachtet und stets lieb und lieber gehabt. Was aber ist das alles gegen die Bewunderung, die Ihr heroischer und unaussprechlich großherziger Brief erweckt - nicht nur bei mir, sondern bei allen, die ihn gelesen, Nim, Tussy, Schorlemmer?“ „Nimmie“ und „Nim“ sind Spitznamen für Helena Demuth. - Natürlich kann das so gedeutet werden, daß Engels das so nicht gemeint hat. Er  dachte an Tussy und Schorlemmer und daß einer von ihnen es Helena vorgelesen hat. Kann sein. Aber warum sollte es?

 

Das war der Stand bis vor etlichen Jahren; es gab keinen Hinweis darauf, daß Helena lesen und schreiben konnte - außer den genannten Indizien. Auf den ersten Beleg stieß ich in den St. Wendeler Notariatsakten im Landesarchiv Saarbrücken. Dort gibt es eine eigenhändige Unterschrift auf einer Vollmacht, deren Zustandekommen etwas kompliziert ist.

 

Helenas Eltern Michel Demuth aus St. Wendel und Maria Katharina Creuz aus Oberlinxweiler heirateten 1808 in St. Wendel und kauften im gleichen Jahr ein Wohnhaus in der oberen Balduinstraße, wo ihre ersten vier Kinder zur Welt kamen. Im Jahre 1818 kauften sie ein Haus unten im Graben, wo ihre drei jüngsten Kinder geboren wurden. Was aus dem ersten Haus wurde, ist nicht bekannt.

 

Michel Demuth starb 1826. Neun Jahre später brachte seine Witwe eine weitere Tochter zur Welt, die Anna Maria genannt wurde und den Mädchennamen ihrer Mutter erhielt: „Kreuz“. 1840 wanderte ihr Sohn Peter in die USA aus und ließ sich in Dansville im Bundesstaat New York nieder. Seine Anteile am Haus im Graben verkaufte er an seine Mutter; diese starb 1848. Von den sieben Kindern von Michel und Maria Katharina Demuth lebten da noch vier. Im Haus wohnte Helenas Schwester Katharina mit ihren drei unehelichen Kindern, der geistig behinderten Elisabeth und ihre Halbschwester Anna Maria Kreuz. Elisabeth starb 1852, im gleichen Jahr heiratete Katharina den Schneider Peter Riefer, von dem wir später noch lesen werden. Sie gebar ihm drei Söhne, von denen nur der älteste - Adolf Riefer - überlebte.

 

Helena lebte in London im Haushalt der Familie Marx (wo sie 1851 einem Sohn namens Frederick das Leben geschenkt hatte, dessen Vater höchstwahrscheinlich Karl Marx gewesen war - aber das nur nebenbei, er spielt in dieser Geschichte keine Rolle). Ihre Halbschwester Anna Maria Kreuz arbeitete ebenfalls im Marxschen Haushalt in London; sie ist 1861 dort gestorben.

 

Adolf Riefer ist eine illustre Figur in diesem ganzen Reigen. Geboren wurde er 1853 im Haus im Graben. Um 1870 wohnte er in Trier - er wollte Lehrer werden, gab seine Pläne aber wegen eines Skandals auf - er hatte mit einer Lehrerin ein Verhältnis begonnen, was dieser gesetzlich verboten war, weil sich in Preußen Lehrerinnen freiwillig einem Zölibat zu unterwerfen hatten. Er heiratete in Trier (nicht die Lehrerin) und versuchte sich dort als Kaufmann, aber das funktionierte nicht. Auch nicht Mitte der 1880er in St. Wendel.

 

Im Dezember 1888 bewarb er sich um die Stelle des Bahnhofswirtes im französischen Sarrebourg. Vielleicht um den Umzug zu bewerkstelligen, vielleicht als Startkapital - jedenfalls brauchte er Geld, das er nicht hatte. Also beschloß er, bei der Kreisspar= und Darlehnskasse in St. Wendel ein Darlehen von 1200 Mark in bar aufzunehmen und das Wohnhaus im Graben als Sicherheit zu geben. Nun kann man nur als Sicherheit geben, was einem auch gehört. In seinem Fall war das nicht das ganze Haus, sondern nur die Hälfte - die andere gehörte seiner Tante Helena in London.

 

Sie möchten sicher wissen, wieso Riefer hälftiger Eigentümer ist. Er hatte doch noch drei Halbgeschwister, die unehelichen Kinder seiner Mutter Katharina. Nun, diese waren nicht anerkannt. Seltsames Wort, nicht wahr. „Anerkannt“. Das ist im Code Civil geregelt. Uneheliche Kinder sind nur dann erbberechtigt, wenn sie von der Mutter zusätzlich zum Geburtseintrag anerkannt wurden. Das hat Katharina nie getan - und damit ihre ersten drei Kinder um ihr Erbe gebracht.

 

Helena Demuth hatte 1888 ihrer Heimatstadt St. Wendel ihren dritten und letzten Besuch abgestattet und dabei wohl mit ihrem Neffen die Bedingungen für die Hausbeleihung festgelegt. Was jetzt noch fehlte, war ihre Unterschrift. Am 4. Dezember 1888 besuchte Helena in London den öffentlichen Notar Robert H. J. Comerford und ließ eine Vollmacht aufsetzen, die sie anschließend unterschrieb. Das Original der Vollmacht liegt heute im Landesarchiv Saarbrücken bei den Akten des Notars Schneider, da wo sie von Rechtswegen auch hingehört [LAS, Notar Schneider, Nr. 9491 vom 17.12.1888].

 

Leider liegt uns kein Notariatsakt vor, bei dessen Erstellen durch den Notar Helena Demuth unmittelbar präsent war. Dort hätte der Notar bei einer fehlenden Unterschrift den Zusatz gemacht, die betreffende Person sei „schreibensunerfahren“ oder „schreibensunkundig“. Wie zum Beispiel 1840 in einem Akt des St. Wendeler Notars Hen vom 16. Februar 1840. Darin beleiht die Witwe von Michel Demuth, Helenas Mutter, das Haus, an dem sie gerade die Anteile ihres Sohnes Peter erworben hatte (Sie erinnern sich? Der nach Amerika auswanderte!). Am Ende vermerkt der Notar:

 

Worüber dieser Akt errichtet wurde zu St. Wendel auf der Schreibstube des unterzeichneten Notaers am sechszehnten Februar achtzehnhundert und vierzig in Gegenwart von Johann Andreas Psotta, Färber, und Joseph König, Schumacher, beide in St. Wendel wohnhaft, gekannte und erbetene Zeugen, welche nach geschehener Vorlesung mit den Comparenten und uns Notaer unterschrieben haben, die Schuldnerin ausbenommen, welche erklärte, Schreibensunerfahren zu sein und ihr + Handzeichen gemacht hat. “ [Landesarchiv Saarbrücken, Notar Hen, Nr. 123 vom 16.02.1840]

 

Ebenfalls unterschrieben hat Katharina Demuth, ihre Tochter, als Miteigentümerin; Helenas Unterschrift suchen wir vergeblich, sie war 1840 mit 20 Jahren weder volljährig noch - so lautet der juristische Begriff, den man in zahlreichen Notariatsakten finden kann - „im Besitz ihrer Rechte“.

 

Ihren Namen finden wir auf einem offiziellen Dokument, das nur ein paar Jahre später ebenfalls in St. Wendel entstanden ist.

 

    Am frühen Morgen des 18. Dezember 1843 wird der St. Wendeler Polizeidiener Johann Auer informiert, daß es in der Nacht unten in der Grabengasse zu einer Ruhestörung gekommen sei, bei der Fensterscheiben der Häuser der Witwe Demuth und Maria Monz zertrümmert wurden [Stadtarchiv St. Wendel, C2-18, Seite 30ff]. Als Auer vor Ort eintrifft, ist der Glaser Monz schon dabei, im Auftrag des Schieferdeckers Sirker die zerschlagenen Fenster zu reparieren bzw. zu ersetzen. Im Hause Monz findet Auer eins der Tatwerkzeuge,einen schweren Ziegelstein. Er erfährt, daß am späten Abend gegen halb zwölf der genannte Sirker zusammen mit dem Schneider Peter Riefer die Scheiben am Demuth’schen Haus eingeschlagen und später zusammen mit dem Kammacher Johann Kaisling die Scheiben am Monz’schen Haus eingeworfen habe. Zurück im Rathaus erstattet er dem Bürgermeister Conrad Bericht, der Zeugen und Beschuldigte sofort vorlädt und verhört.

 

    Als erster ist der Schieferdecker Anton Sirker an der Reihe, der einerseits beschuldigt wird, andererseits den Glaser beauftragt hat, den Schaden zu reparieren. Dubios. Der Bürgermeister weiß inzwischen vom Nachtwächter Pfeiffer, daß dieser den Sirker „auf der Dungstätte des Georg Reinebach in betrunkenem Zustand“ angetroffen hatte. Sirker sagt aus:

 

    Ich befand mich gestern in Gesellschaft mehrerer jungen Leute im Wirthshause des Joseph Auer [in der Brühlstraße] dahier. Gegen halb acht Uhr des Abends begab ich mich nach Hause zum Nachtessen, kehrte aber gegen halb neun Uhr in das Wirthshaus des Auer wieder zurück, da mir die Gesellschaft gefallen hat. Kurz nach meiner Rückkunft sagte mir der junge Friedrich Auer, Bruder des Gastwirths, der sich in der Gesellschaft junger Leute befand, ei, du hast schöne Sachen gemacht, du hast Fenster eingeschlagen, worauf ich lachend erwiederte, weil ich glaubte, es sollte dies eine scherzhafte Aeußerung sein, ja, das ist auch wahr. Durch die muntere Gesellschaft animirt trank ich wohl etwas mehr wie ich hätte trinken sollen und kam dadurch in einen sehr trunkenen, bewußtlosen Zustand, in welchem ich durch den Peter Riefer aus dem Auerschen Wirthshause fort gebracht wurde. Was später mit mir vorgefallen ist, weiß ich nicht, kann jedoch mit Bestimmtheit angeben, daß ich keine Fenstern eingeschlagen habe, umso mehr als ich früher, wie mir die Beschuldigung gemacht wurde, in einem nüchternen Zustande mich befand und gut wußte, was ich that. Sonst weis ich in der Sache nichts weiter zu sagen.

 

    Die Aussage des Schneiders Peter Riefer ist noch konfuser.

    Ich war gestern auch in dem Wirthshaus des Josef Auer und habe mit der Gesellschaft, in welcher sich auch Anton Sirker befand, namentlich mit dem Blechschläger Johann Schadt und dem Joseph Träger, Müller zu Felsenmühle, einige Flaschen Wein getrunken; auch bin ich mit dem Anton Sirker aus dem Auerschen Hause fortgegangen, und habe nirgends Fenstern eingeschlagen, muß aber vermuten, daß es von dem Sirker geschehen ist, indem derselbe, wie wir den Graben hinauf giengen und an die Wohnung der Witwe Demuth kamen, wo wir in der Wohnstube meines Bruders, der dort in Miete wohnt, Licht erblickten, und als ich äußerte, daß hier Licht sei, der Sirker, damit wir nicht auf der Stelle aufgehalten würden, mich fortzuschaffen suchte, wobei ich meine Kappe verlor.

    Als ich nun nach meiner Kappe suchte, kam mein Bruder an das Fenster. Ich bückte mich, damit derselbe mich nicht sehen sollte, weil ich nicht wünschte, daß er es wisse, daß ich so spät noch auf der Straße war. Sirker hatte mich während dem vom Hause der Witwe Demuth fortgezogen. Da ich aber meine Kappe nicht im Stich lassen wollte, so gieng ich wieder nach dem Hause zurück, obgleich Sirker mit Anstrengung mich abzuhalten versuchte. Da ich noch Licht in meines Bruders Wohnung sah, so gienge ich in das Haus, um die Leute zu bitten, mir zu leuchten, um meine Kappe auffinden zu können. Hier traf ich nun den Nachtwächter Pfeiffer, der auf meine Bitte erwiderte, „ah hah! Jetzt haben wir ihn“. Ich wußte nicht, was dies bedeuten solle, hörte aber später, nach dem ich zu meinem Bruder gegangen und hier die Mädchen im Hause hinzugekommen waren, daß unten im Hause der Witwe Demuth die Fenster eingeschlagen worden seien, wobei die Mädchen sich dann auch äußerten, sie kennten den Thäter und ich sollte nur ruhig sein. Sonst weiß ich in der Sache nichts zu erinnern. Hat nach Vorlesung genehmigt und unterschrieben.

 

    Der Nachtwächter wird nicht vernommen, statt dessen eine Bewohnerin des Demuth’schen Hauses, deren Aussage ein klares Bild des Geschehenen gibt:

 

    Hiernächst erschien auf ergangene Vorladung die Helena Demuth, ledigen Standes, Tochter von der Witwe Demuth in St: Wendel und erklärt in Betreff der Gestern Nacht an ihrem Wohnhause verübten Thatsache durch Einschlagung von zwei Fenstern an ihrem Hause wie folgt:

    Gestern Abend um ohngefähr 9 Uhr 15 Minuten, habe ich meine jüngste Schwester Maria [Anna Maria Kreuz] nach einem Bäckerhause hier begleitet. Als wir bald darauf zurück nach Hause giengen, ergriff auf einmal ohnweit unseres Hauses mich jemand am Arm, und sagte, Gott sei Dank, daß ich dich mal habe. Auf meine Frage, was er wolle, antwortete er, du brauchst dich nicht zu fürchten, nahm aber zur nemlichen Zeit ein großes Bierglas aus der Tasche und schmiß es vor mir nieder. In diesem Augenblick näherten sich mehrere junge Leute, wo ich Gelegenheit fand, nach Hause ruhig zu gehen. Dieser junge Mensch, Anton Sirker, gieng mir nach und warf einen Stein nach mir, der mich aber nicht traf.

    Ohngefähr eine viertel Stunde hernach, als ich schon zu Bette lag, kam Jemand an unser Haus und klopfte am Fenster. Meine Schwester Catherina fragte, wer da sei, worauf die Person antwortete "ich!". Wir - ich und meine Schwester - erkannten an der Stimme, daß es Anton Sirker von hier war. Gegen zwölf Uhr des Mitternachts kam wieder Jemand an unser Fenster und klopfte. Auf Befragen, wer da sei, antwortete er „Anton Sirker"; wenn ihm in zwei Minuten nicht aufgemacht wird, so schlage er die Fenstern ein. Meine Schwester sagte, nein, es wird nicht aufgemacht, du kannst nach Hause gehen. Hierauf schlug sogleich der Sirker die Fenstern ein und gieng danach eine Strecke vom Hause weiter, worauf wir sahen, daß er auf die Seite gieng und jemand noch bei ihm war. Bald hierauf erschien der Nachtwächter Pfeiffer. Wir riefen ihm zu und sagten ihm, daß die Fenstern an unserem Hause eingeschlagen worden seien und zwar durch gedachten Sirker. Zu der Zeit, als wir dem Nachtwächter Pfeiffer den Vorfall erzählten, erschien der Peter Riefer, Schneider von hier, und suchte seine Kappe, sagte dabei, daß der Sirker ihm dieselbe weggenommen hätte, und fand sich auch wirklich die Kappe des Riefer vor unserer Thüre auf dem Mist.

    Nach Vorlesung erklärte die Vorgeladene, daß sie nicht weiter zu erinnern wisse und hat genehmigt und unterschrieben wie oben.“

 

    Anton Sircker kam ebenfalls 1820 zur Welt - tatsächlich war er nur acht Monate älter als sie. Er ist der älteste Sohn des Tuchmachers Wendel Sircker (1773-1826) und seiner Ehefrau Maria Elisabeth Riotte (1785-1847), deren Wohnhaus südlich der katholischen Pfarrkirche lag (linker Teil des heutigen heutigen Anwesens Balduinstraße 20). Somit stand das Demuth’sche Haus im Graben auf halbem Wege zwischen Sircker und dem Gasthaus Auer, und Sircker kam auf dem Nachhauseweg hier vorbei. Er und Helena Demuth kannten sich sicherlich. Katharina Sircker (1725-1793), eine Schwester seines Großvaters Johann, war mit Nikolaus Servatius (1720-1782) verheiratet. Ihr Sohn Nikolaus (1758-1816) und seine Ehefrau Katharina geb. Riefer (1767-1818) haben 1818 das Wohnhaus im Graben an Michel und Maria Katharinas Demuth verkauft, Helenas Eltern.

 

    Nach dem Tod seiner Mutter ließ Anton Sircker seine Mobilien versteigern (Immobilien besitzt er keine) und verließ St. Wendel für immer.

 

    Der Schneider Peter Riefer ist uns schon begegnet, er würde später Helenas Schwester Katharina heiraten. Sein Elternhaus stand ebenfalls im Graben. Warum er dann mit Sircker durch den Graben Richtung Oberstadt wankte - vermutlich weil er völlig betrunken war und sich mitschleppen ließ. Sein Bruder, der im Hause Demuth in Miete wohnte, war vermutlich der Schuster Josef Riefer (1808-1883), dessen Schwager Wenceslaus Fehr (1810-1862) mit Barbara Demuth (1809-1834) verheiratet war, Helenas ältester Schwester, die im Kindbett starb.

 

Die beiden Unterschriften - sie sind sich sehr ähnlich, haben aber auch ihre Abweichungen. Reichen sie und der Hinweis, daß Helena wegen Körperschwäche ihr Testament nicht mehr unterschreiben konnte, aus, um fest behaupten zu können, daß sie wirklich schreiben konnte? Ein Familienforscherkollege, pensionierter Polizist im wirklichen Leben, wies mich kürzlich darauf hin, daß er im Laufe vieler Jahre oft gesehen hat, wie Leute, die weder lesen noch schreiben konnten, ihren Namen zeichnen und laut wiedergeben konnten.

 

Laute malen und wieder laut aussprechen.

 

Viele Fragen, viele Antworten, viele Details. Zwei Kreuze, zwei Unterschriften. Aber weiterhin keine Briefe, keine handschriftlichen Unterlagen aus der Feder der Helena Demuth. Auf die zweite Unterschrift, also die von 1843, stieß ich, als ich einer obskuren Spur folgte. Und niemand war erstaunter als ich.

 

Aber vielleicht ist uns das Glück wieder einmal hold, und jemand stolpert über den Nachlaß von Frederick Demuth, Helenas Sohn, bei dessen Erbe sich vielleicht auch Papiere befunden haben mögen.

 

Vielleicht. Wenn wir Glück haben.

 

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